von Rabbi Carl M. Perkins
Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet von Christopher Hitchens ist eins von einem halben Dutzend in jüngster Zeit erschienenen Büchern, die an der Religion und der verderblichen Rolle, die sie angeblich in der Menschheitsgeschichte spielte, kein gutes Haar lassen.
Hitchens fährt eine Reihe simpler Argumente auf. Erstens seien die metaphysischen Behauptungen der Religion falsch. Daher hat die Religion keinen höheren An-
spruch an unser Denken oder unser Verhalten als irgendetwas, was unser Verstand rational fassen kann.
Zudem sei die Religion schlimmer als einfach nur falsch. Die ganze Geschichte hindurch habe die Religion schädlich und zerstörerisch gewirkt: sie ist grausam, er-
niedrigend und gewalttätig. Und schließlich sei Religion eine einlullende Droge. Sie biete falsche Hoffnungen und Scheinglück. Die Ängste und Sorgen des menschlichen Lebens könne sie nicht wirklich mildern. Sie hat weit mehr Schaden angerichtet als Gutes bewirkt, je eher sie deshalb von der Weltenbühne verschwindet, desto besser.
Vor einiger Zeit – zufällig war es die Woche vor dem 11. September 2001 – dis-
kutierte Hitchens mit Dennis Prager, dem jüdischen Moderator einer Talkshow in Kalifornien, der kämpferisch für religiöse Zugehörigkeit und ein religiös geführtes Leben wirbt. Stellen Sie sich vor, sagte Prager zu Hitchens, Sie sind allein in einer fremden Stadt und der Abend bricht herein. Plötzlich sehen Sie, wie eine große Gruppe Männer auf Sie zukommt. Beantworten Sie mir jetzt die Frage, so Prager, ob Sie sich sicherer oder weniger sicher fühlen würden, wenn Sie wüssten, dass die Männer aus einem Gottesdienst kommen? Ohne zu zögern, antwortete Hitchens: Diese Erfahrung, dass eine große Gruppe von Männern auf ihn zukam, habe er oft gemacht; er werde sich auf den Buchstaben B beschränken: Belfast, Beirut, Bombay, Belgrad, Bethlehem und Bagdad. »In jedem dieser Fälle«, sagte er, »kann ich Ihnen ganz klar sagen, warum ich mich sofort bedroht fühlen würde, wenn ich wüsste, dass diese Gruppe Männer gerade von irgendeiner religiösen Versammlung kommt.«
Hitchens argumentiert, dass Religion sich oft zwar friedlich und gut anhört, vor allem wenn sie die Liebe unter den Menschen predigt. Wo und wann immer sie aber zu Macht gekommen sei, hätten Menschen unter ihr gelitten: seien es die Kreuzzüge, die mittelalterliche Inquisition oder die theokratischen Regime und religiösen Krisenherde in heutiger Zeit.
Hitchens hat recht. Im Namen der Religion geschahen und geschehen furchtbare Dinge. Aber wenn das so ist, wenn Religion falsch und gefährlich ist, warum sind wir dann dieser Tage in der Synagoge versammelt? Kann es sein, dass es nicht nur närrisch, sondern auch böse ist, die primitiven Ansichten, die in unseren uralten Texten geäußert werden, immerfort lebendig zu erhalten? Warum den Schabbat ehren? Warum die Tora lesen?
Hitchens hat zwar einerseits recht, an-
dererseits aber liegt er völlig daneben. Er hat eine glänzende Kritik am hergebrachten Glauben geschrieben. Doch der Glaube, den er kritisiert, ist nicht der Wesenskern des heutigen Judentums. Denn das Judentum hat sich stets weiterentwickelt. So wie das talmudische Judentum nicht länger das biblische Judentum war, unterschied sich das mittelalterliche Judentum vom talmudischen Judentum. Das moderne Judentum unterscheidet sich von allen seinen Vorläufern. Daher reflektiert unsere Religion die philosophischen Grundsätze der Aufklärung, die auch den Kern von Hitchens’ Kritik ausmachen, statt sie zu-
rückzuweisen.
Es gibt ein noch überzeugenderes Argument. Das Judentum war nie eine Religion, die auf einem Glaubensbekenntnis oder einem Katechismus gründet. Es ist die sich wandelnde religiöse Zivilisation eines Volkes mit einzigartiger Sprache, Kultur und Heimat. Ja, ich weiß, man kann an dieser Stelle Maimonides’ 13 Grundsätze des Glaubens anführen. Doch das Ju-
dentum verfügte nie wirklich über ein Glaubensbekenntnis. Nicht vor Maimonides und auch seither nicht. Gewiss, es gibt im Judentum eine Reihe von theologischen Kernsätzen, doch die Juden haben sie zu keiner Zeit auf einheitliche Weise verstanden oder angewandt – und heute erst recht nicht.
Für alle, die sich theologische Stringenz wünschen, mag das frustrierend sein. Hier eine Überlegung des jüdischen Gelehrten Abraham Joshua Heschel (1907–1972): »Wenn der Glaube vollständig durch ein Glaubensbekenntnis, Anbetung durch Disziplin, Liebe durch Gewohnheit ... ersetzt wird, wenn die Religion nur noch im Na-
men der Autorität spricht statt mit der Stimme des Mitempfindens, wird ihre Botschaft bedeutungslos.«
Womit also fängt alles an, wenn es nicht mit dem Glauben anfängt? Der Punkt, an dem man ansetzen muss, ist Ehrfurcht. »Ehrfurcht geht dem Glauben voraus«, schreibt Heschel. Und »Ehrfurcht, nicht Glaube, ist die entscheidende Haltung des religiösen Juden«.
Das ist die Essenz unserer Erfahrung in diesen Tagen – oder sollte es sein. Auf Hebräisch heißen sie Jamin Noraim, Tage der Ehrfurcht. Nicht »Tage des Glaubens« oder »Tage der Andacht«, sondern Tage der Ehrfurcht.
Wann und wie empfinden wir Ehrfurcht? Vielleicht in einem glücklichen Augenblick, etwa bei der Geburt eines Kindes. Vielleicht als Folge einer ausgestandenen Furcht, zum Beispiel in der Arztpraxis, oder wenn wir von einem unzeitigen Tod hören oder von der Rettung vor einem unzeitigen Tod. Wie Rabbi Daniel Gordis in seinem Buch »God was not in the Fire« (Gott war nicht im Feuer) schreibt: »Es kann auch einfach nur ein Innehalten in unserem hektischen Lebenstempo sein.«
In dem hebräischen Begriff für Frömmigkeit spiegelt sich der Vorrang der Ehrfurcht vor dem Glauben wider. Das Wort im Hebräischen für Religiosität lautet »Jirat Schamajim« und bedeutet »Ehrfurcht vor dem Göttlichen«. Was den Frommen auszeichnet, ist Ehrfurcht und nicht Glauben.
Was dem Wort »Glauben« im Hebräischen in der Tat am nächsten kommt, ist das Wort »Emuna«, was eigentlich »Treue« oder Hingabe bedeutet. In der Tora wird Gott ein »Gott der Emuna« genannt, das heißt Gott, ist treu, Gott ist verlässlich – nicht dass Gott an irgendeine den Tatsachen widersprechende Hypothese glaubt. Und wir sind gefordert, treu zu sein, verlässlich, zuverlässig. Dahin führt uns die Ehrfurcht. Ein treuer Jude zu sein heißt, treu zu sein zu unserem kollektiven Verständnis dessen, was es heißt, ein jüdisches Leben zu führen. Es beinhaltet auch, dass wir uns, in Heschels Worten, bei unserer Suche nach dem Heiligen auf das Handeln konzentrieren und nicht auf das Denken. Wir können, durch Tschuwa, Tefilla und Zedakka (Rückkehr, Gebet und Gerechtigkeit), zu etwas anderem werden als das, was wir waren. Wir sind nicht die Gefangenen unserer Vergangenheit oder die Gefangenen unseres Schicksals. So schwierig es auch zu vollbringen ist, wir können so menschlich, so fromm, so treu sein, wie wir es wollen.
Wenn das unsere Religion ist, ist sie kaum ein Beruhigungsmittel und noch weniger ein Gift. Wenn, dann ist sie ein Elixier, das uns Kraft gibt. Ein Elixier, das uns die Motivation, die Mittel und die Belohnung dafür zur Verfügung stellt, jene Veränderungen zu meistern, die wir meistern können und sollen.
Alles in allem führt Hitchens uns direkt in die Synagoge. Er erinnert uns daran, dass wir unsere Augen vor der uns umgebenden Welt nicht verschließen dürfen. Dass wir uns für eine Religion entscheiden müssen, die wahr ist. Eine Religion, die wissenschaftliche und historische Er-
kenntnisse über die empirische Welt nicht zurückweist, sondern sich einverleibt. Und Hitchens erinnert uns wieder daran, dass Religion und politische Macht sich nicht gut vertragen. Die Trennung von Kir-
che und Staat ist die Voraussetzung dafür, dass die Religion rein bleibt und die Po-
litik frei entscheiden kann.
Ja, Religion kann alles vergiften. Schlechte Religion, wohlgemerkt. Sie isoliert uns von anderen Menschen. Sie ist korrupt. Aber gute Religion kann uns Tu-
genden wie Fürsorge, Fairness und Integrität bescheren. Religion inspiriert uns und hilft uns, uns Ziele zu setzen, uns auch den schwierigsten Herausforderun-gen zu stellen.
Wir wollen versuchen, die großen Herausforderungen, die das Judentum für uns bereithält, zu meistern. Wir wollen alles tun, um das Schlechte zurückzuweisen, und dem Besten, was Religion für uns und für die ganze Welt sein kann, gerecht zu werden. Schana Towa.
Der Autor ist Rabbiner der Gemeinde Temple Aliyah, Needham/USA