von Micha Guttmann
Die Festlaune ist vorbei. Die besondere Stimmungslage zu Neujahr zwischen Nachdenklichkeit und gespannter Erwartung ist wieder dem realistischen Umgang mit dem Alltag gewichen. Die privaten, gesellschaftlichen und politischen Probleme sind gleich geblieben, so als habe es den Jahreswechsel gar nicht gegeben. Und dies trifft für den jüdischen Kalender auch zu. Er zeigt uns an, dass wir im Jahr 5767 im Monat Tewet sind, also mitten im jüdischen Jahreszyklus. Da aber auch in den jüdischen Gemeinden weltweit das bürgerliche Neujahrsfest begangen wurde, drängt sich die Frage auf: Brauchen wir den jüdischen Kalender überhaupt noch, wenn sich die bürgerliche Zeitrechnung überall auf der Welt durchsetzt? In Peking wurde Neujahr gefeiert, in Kairo und auch in Tel Aviv.
Die rapide fortschreitende Globalisierung hat zur Folge, dass kulturelle und historisch gewachsene Traditionen immer mehr verschwinden und neuen Lebensweisen Platz machen, die sich aus einer Mischung verschiedener Kulturkreise speisen. Des ursprünglichen Sinnes entleert werden in vielen Kulturkreisen Halloween-Partys und Hexentänze veranstaltet, wird Silvester mit Feuerwerk und Thanksgiving mit einem Truthahnessen gefeiert. Fernsehen und Internet tun ein Übriges, um »internationales« Lebensgefühl zu verbreiten.
Die jüdische Gemeinschaft kennt dieses Phänomen seit ihrem Bestehen. In den Jahrhunderten der Diaspora hat es, abgesehen von gewaltsamen Bekehrungsversuchen, immer wieder Einflüsse gegeben, die auf die traditionellen jüdischen Lebensformen einwirk- ten, sie ändern wollten und es teilweise auch getan haben. Keine geistig freie Gesellschaft kann dieser Entwicklung entgehen. Gut so. Denn so muss sich auch das Judentum dem Wettbewerb mit anderen religiösen, moralischen und ethischen Ideen und der Auseinandersetzung mit neuen Erkenntnissen aus Natur- und Geisteswissenschaft stellen. Es muss dabei seine religiösen und traditionellen Überzeugungen an der Lebenswirklichkeit messen und mit ihr in Übereinstimung bringen, ohne seine Grundlagen und Werte zu verlieren. Wer aus Angst diese notwendige Auseinandersetzung vermeiden will, erreicht nur eines: die geistige Schwächung der eigenen Gemeinschaft. Denn wo man nur in eine Richtung denkt und sieht, denkt und sieht man letztlich überhaupt nicht mehr. Die Gemeinschaft wird durch innere Widersprüche bedroht und, aktuell politisch ausgedrückt, ein Reformstau gefährdet die weitere Entwicklung, vielleicht sogar die Existenz.
Dieser Spagat der inneren Auseinandersetzung ist über Jahrtausende gelungen, auch wenn es dabei immer wieder zu heftigen Kontroversen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gekommen ist. Die Entwicklung hat aber eines sehr deutlich gezeigt: Gegenüber reinen Assimilationsbestrebungen, die religiöse und kulturelle Grundwerte in Frage stellten, zeigte sich die jüdische Gemeinschaft jederzeit immun. Das heutige Judentum mit seinen vielfältigen Strömungen bietet allen Juden, die an den Wurzeln ihrer Religion festhalten wollen, individuelle Lebensformen an, auch wenn es bei der institutionellen Umsetzung in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland noch erhebliche Probleme gibt.
Doch um die Fundamente des Glaubens und der Überzeugung leben zu können, brauchen wir auch ein System, das diese Wurzeln des Judentums sichtbar und erlebbar macht. Und deshalb benötigen wir den jüdischen Kalender, der heute vor allem Ausdruck jüdischer Lebensweise und weniger Terminkalender des täglichen Umgangs ist. Dies wird schon dadurch deutlich, dass viele das System der jüdischen Zeitrechnung und die Monatsnamen des Kalenders nicht mehr kennen. Es lohnt sich übrigens, das Wissen hierüber aufzufrischen und zu erweitern.
Der jüdische Kalender gibt uns aber nicht nur die Termine der Festtage und die Zeiten des Beginns des Schabbats vor. Dies ist seine eher praktische Nützlichkeit. Seine darüber hinausgehende Wirkung ist viel bedeutsamer: Er gibt mit der Angabe von Feiertagen einen Überblick über das religiöse, kulturelle und traditionelle jüdische Jahr und symbolisiert damit Glaubensüberzeugungen und Lebensweisen. Ab und zu einen Blick in den hebräischen Kalender zu werfen, ist mit Sicherheit ein bewusstes Zeichen eigener Identität. Darüber hinaus ist es aber auch ein Versuch, in der Fülle der sinnentleerten Feste und Feiern diese jüdische Identität zu wahren.
Der Autor ist Rechtsanwalt, Redakteur und Moderator beim WDR. Er war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden.