von Viola Roggenkamp
Besuch aus Amerika, Besuch aus Israel, Frankreich und England in der Bertha-Pappenheim-Gedenkstätte in Neu-Isenburg, dem ehemaligen Mädchenheim für alleinstehende Jüdinnen und ihre Kinder. Die Besucher sind Juden oder Psychoanalytiker oder beides, oder aber ihre Mütter, Tanten, Großmütter waren hier als Kinder, und dann kennen sie Fräulein Bertha Pappenheim aus Erzählungen.
Man konnte sie nicht einfach liebhaben. Sie wurde gefürchtet, sie wurde verehrt. Sie achtete darauf, dass die jüdischen Gebote eingehalten wurden, sie richtete »Frageabende« ein, sie las den Kindern vor, »Doktor Dolittle« oder »Das fliegende Klassenzimmer«, und zum Schabbes versammelte sie Freundinnen bei sich. »Womit haben Sie den Tag verbracht?« war Bertha Pappenheims Frage zur Begrüßung, und »zu Ende denken« ihre ständige Forderung.
Bertha Pappenheim, geboren am 27. Februar 1859, ist eine Tochter des großbürgerlichen Wiener Judentums, eine Jüdin zwischen Monarchie und Nationalsozialismus, zwischen viktorianischer Prüde- rie und Frauenbewegung. Schlank, geradezu hager, schon weißhaarig tritt sie mit 36 Jahren endlich ins Leben.
Bis dahin ist sie Patientin, zu Hause in Wien und später in Sanatorien. Sie ist Anna O., ihre Fallgeschichte, aufgezeichnet von Sigmund Freud nach Berichten des behandelnden Arztes Breuer, gibt Auskunft über ein hochintelligentes junges Mädchen, extrem unterfordert, begabt, bildschön und leidenschaftlich. Sie lebt in einer Zeit, in der Männer bestimmen, was Weiblichkeit ist.
Allerorten erscheinen Publikationen, in denen die emanzipierte Frau zum bedrohlichen Phänomen der menschlichen Gesellschaft wird. Die Autoren sind meistens auch Antisemiten. Im historischen Vorraum zur Nazizeit, diskutiert man auf der Straße, in Zeitungen und in politischen Versammlungen die Juden- und die Frauenfrage.
Bertha Pappenheim wird Vorsitzende des von ihr 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbundes, bald gehören ihm 50.000 Frauen an. Sie ist Organisatorin und Theoretikerin der Sozialarbeit für jüdische Kinder und Frauen, sie bekämpft Prostitution und Mädchenhandel, sie kämpft gegen die Verdummung der Töchter, sie kämpft immer mit denselben Mitteln – Aufklärung, Bildung und Beschäftigung von Frauen. Sie hält Vorträge in den USA, sie reist nach Osteuropa und Russland, wo sie in Bordellen mit jüdischen Prostituierten und mit jüdischen Mädchenhändlern spricht, sie wartet stundenlang darauf, vom Rabbi im Schtetl vorgelassen zu werden, und er hört sie an.
Dort, in der Enge und Armut, wird der großbürgerlichen, der gebildeten Jüdin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim fühlbar, dass in der noch existierenden Schtetlwelt nicht nur gute jüdische Tradition wurzelt, sondern auch erstickende Orthodoxie.
Ihre politische und soziale Arbeit ist außerordentlich erfolgreich. Ihr geht nichts schnell genug. Sie verlangt Gehorsam, sie ist überschäumend in der Wut wie in der Herzlichkeit, zeitweilig erfassen sie überwältigende Einsamkeitsgefühle und das Empfinden, nutzlos zu sein.
Aus Bertha Pappenheims Schriften gegen Prostitution und Mädchenhandel zitiert die nationalsozialistische Zeitung »Der Stürmer«. Sie hat die Mittäterschaft auch jüdischer Männer als Zuhälter aufgezeigt, daraus bedienen sich nun die Nazis. Der jüdische Frauenbund arbeitet weiter, bis er von der Regierung 1938 verboten wird. Zionistische Gruppen organisieren Auswanderungen für jüdische Kinder und Jugendliche nach Palästina.
Bertha Pappenheim hält nichts davon. Wozu die Kinder aus ihren Familien reißen? Geht es ihnen nicht schon schlecht genug? Dass der Judenheit die Vernichtung bevorsteht, kann sie nicht glauben. Sie reist nach Palästina, um sich die zionistischen Errungenschaften anzusehen und befindet: »Für einen kleinen Teil der Judenschaft mag Palästina etwas bedeuten – für den Geist des Judentums ist die Welt gerade groß genug.«
1936 wird sie von der Gestapo vorgeladen. Ein Kind aus ihrem Heim hat etwas gegen die Nazis gesagt. Sie wird stundenlang verhört. Danach legt sie sich ins Bett und gibt ihre Kraft auf. Sie hat Krebs, nimmt aber kein Morphium, um geistig wach zu bleiben. Am 28. Mai 1936 stirbt sie. Hannah Karminski, die ihr wichtigste Freundin, ist bei ihr. 1942 beginnen die Deportationen der jüdischen Waisenkinder aus Neu-Isenburg in die deutschen Konzentrationslager.