dina lourie

»Für mich zählt jede Minute«

Ein Glas lauwarmes Wasser mit einem Schuss Essig und einem Löffel Honig – damit beginnt mein Tag. Schon seit vielen Jahren mische ich mir nach dem Aufstehen dieses Getränk. Und ich nehme eine Ernährungskapsel. Zum morgendlichen Ritual gehört auch die Gymnastik. Eine halbe Stunde nehme ich mir dafür Zeit. Sonst bin ich zu steif, ich habe nämlich Probleme mit Arthrose. Nur selten – und wenn, dann am Wochenende – bin ich mal faul und lasse den Sport ausfallen. Während der Übungen und beim Frühstücken läuft der Fernseher; ich höre mehr hin, als dass ich zuschaue. Wenn ich aus dem Haus gehe, möchte ich informiert sein. Denn tagsüber komme ich nicht dazu, mir Nachrichten anzuhören.

unterwegs Mein Tag beginnt um 6.30 Uhr, und bis ich die Wohnung verlasse, möchte ich nicht gestört werden. Wenn ich einen Anruf von einem meiner Patienten erhalte, muss ich ganz schnell los. Ich bin 24 Stunden für sie erreichbar und habe immer das Handy bei mir. Ich brauche also morgens jede Minute für mich, das weiß auch mein Mann und lässt mich in Ruhe. Kurz bevor ich das Haus verlasse, stellt er mir immer dieselbe Frage: »Kann ich jetzt die Orangen pressen?« Er serviert mir nämlich täglich frisch gepressten Orangensaft. Gute Ernährung ist ihm sehr wichtig: »Das Essen muss unsere Medizin sein«, sagt er immer.
Gegen 8 Uhr sitze ich im Auto, dann beginnt mein Arbeitstag. Die Patienten wollen nicht, dass wir früher kommen. Die Abläufe ähneln sich. Vormittags mache ich immer Hausbesuche. Bis zur Mittagszeit suche ich fünf bis sechs Menschen auf. Dem einen gebe ich beispielsweise eine Spritze, dem anderen ziehe ich die Kompressionsstrümpfe an, das gehört zur Be-handlungspflege. Bei anderen geht es da-rum, Medikamente zu geben, den Verband zu wechseln und Frühstück zu reichen. Dann fahre ich zum nächsten, um ihn zu waschen oder zu duschen und den Haushalt in Ordnung zu bringen. Wir bieten ja Hauswirtschaft, Pflege und Behandlungspflege an. Das ist aber nicht alles. Ich schreibe auch mal Briefe und erledige Anrufe für die Patienten, nachmittags begleite ich sie zu Ärzten und Behörden. Die meisten unserer Patienten sind jüdische Zuwanderer – alte Menschen, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind. Ich kümmere mich daher auch um Dinge, die nicht zu meinen eigentlichen Aufgaben gehören. Denn diese Menschen brauchen vielerlei Hilfe.

koordination Ab mittags bin ich dann im Büro, dort ist oft der Teufel los. Immerzu klingelt das Telefon, ich muss Organisatorisches klären und Arbeit am Schreibtisch erledigen. An den Nachmittagen bin ich oft mit Planungen beschäftigt oder koordiniere interne Fortbildungen. Und Freitagnachmittag widme ich mich dem Dienstplan für die nächste Woche. Unser Pfle- gedienst hat – Aushilfen eingerechnet – insgesamt 25 Mitarbeiter und etwa 60 Patienten. Ich muss die Route des Personals zusammenstellen. Das ist gar nicht so einfach. Ich versuche zwar, immer die gleichen Mitarbeiter zu den Patienten zu schicken, aber das ist nicht jedes Mal möglich. Das verstehen die alten Leute nicht und meckern, das kann dann schon manchmal problematisch werden. Ich kann natürlich nachvollziehen, dass sie eine feste Bezugsperson möchten, aber wenn von unseren Mitarbeitern jemand krank oder im Urlaub ist, dann muss ich eine andere Pflegekraft schicken. Außerdem müssen wir, wie alle Pflegedienste, wirtschaftlich arbeiten. Die Versicherung zahlt ja nicht viel. Also achte ich darauf, die Routen so zusammenzustellen, dass die Mitarbeiter effektiv im Einsatz sind und nicht allzu lange Anfahrten haben; denn die Fahrzeiten können wir mit den Krankenkassen nicht abrechnen.
Ich habe eine Sechs-Tage-Woche; ein richtig langes Wochenende kenne ich gar nicht. Ich arbeite auch an Feiertagen, denn einige Patienten brauchen täglich medizinische Betreuung. Dabei wechsele ich mich mit meiner Stellvertreterin ab, die genau wie ich examinierte Pflegekraft ist. Medizinische Pflege macht nur das Fachpersonal.
Mein Arbeitstag ist nicht normiert, ich habe zu keiner bestimmten Zeit Dienstschluss. Vor 18 Uhr mache ich selten Feierabend. Wenn ich dann noch einkaufen gehe, bin ich erst eine Stunde später zu Hause. Ich koche für meinen Mann und mich. Mein Sohn ist inzwischen 25 Jahre alt, studiert Jura in Mainz und wohnt dort in einem Wohnheim. Manchmal besucht er uns und bringt Freunde mit. Dann koche ich für alle. Ich koche gern. Wenn ich frei habe, lade ich auch mal Gäste ein. Dann wird richtig aufgetischt. Ich mache aber nichts Aufwendiges, wenn der Tag vorher anstrengend war.
Abends unternehme ich eher selten etwas, da ich meist sehr erschöpft bin. Ich widme mich dem Haushalt, sehe fern, blättere in Zeitschriften oder nehme ein Buch zur Hand. Meist lese ich auf Russisch. Ehrlich gesagt habe ich aber nicht viel Zeit dafür. Ich bin oft einfach zu müde.

Freizeit Privat gibt es ein paar feste Termine für mich. Am Dienstag- und Donnerstagabend gehe ich zum Sport, ich bin seit 15 Jahren Mitglied in einem Turnverein ganz in unserer Nähe. Und bei gutem Wetter walke ich mit meiner Nachbarin für eine Stunde am Main entlang. Früher bin ich gelaufen, jetzt kann ich das nicht mehr wegen meiner Knie. An manchen Tagen gehe ich mit meinem Mann aus, ins Kino oder ins Konzert. Die meisten Abende verlaufen aber ruhig.
Das vergangene Wochenende war sehr schön. Am Sonntag waren wir bei Freunden zu Hause eingeladen. Wir haben einen netten Abend verbracht. Einer der Gäste war Klavierspieler, ein anderer Schriftsteller. Da wurde musiziert, und es gab eine interessante Unterhaltung. Auch der Samstag war wunderbar. Ich hatte mich mit meiner Freundin zum Bummeln verabredet. Wir sind auf der Zeil, einer großen Einkaufsstraße hier in der Frankfurter Innenstadt, von einem Geschäft zum anderen geschlendert, haben uns schöne Sachen gekauft, waren essen und haben ein Gläschen Wein getrunken und geplaudert. Das hat mir gut getan. Dazu komme ich ja nicht oft. Denn wenn ich Dienst habe, muss ich auch immer fahrbereit sein, es könnte ja einen Notruf geben.
Ich will mich nicht beklagen, ich liebe meine Arbeit, auch wenn sie Nerven kostet. Denn für alte und kranke Menschen braucht man sehr viel Zeit und Geduld. Zum Glück bin ich ein ruhiger Mensch, meistens jedenfalls. Wenn ich dazu beitragen kann, dass es den alten Leuten gut geht, dann bin ich zufrieden. Ich würde nichts anderes mehr machen wollen. Nur ein bisschen mehr Zeit für mich und zum Reisen, das wäre schön.

neuanfang In Moskau habe ich Maschinenbau studiert und 20 Jahre als Ingenieurin gearbeitet. Dann war ich Hausfrau. Wir sind 1992 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Ich musste erst Deutsch lernen, habe acht Monate lang einen Sprachkurs besucht, danach jede Menge Bewerbungen abgeschickt, aber keine Stelle in meinem Beruf gefunden. Als 46-Jährige habe ich angefangen, die Krankenschwesternschule zu besuchen. Das ist mir nicht schwergefallen. Ich lerne gern. Mein Examen habe ich mit Note 1,6 abgeschlossen. Das haben mir einige nicht zugetraut. Als ich danach zur Schwesternschule ging, hatte ich keine Ahnung von Pflege. Später habe ich sechs Jahre in einem privaten Wohnstift gearbeitet. Und jetzt bin ich Pflegedienstleiterin.
Wissen Sie, in Moskau war ich die Frau eines angesehenen Arztes. In Frankfurt wurde ich Pflegekraft. Das ist natürlich eine große Umstellung. Hier habe ich neu angefangen und bin, auch dank meiner Arbeit, eine starke Frau geworden. Im Russischen gibt es eine Redewendung, sinngemäß übersetzt lautet sie: »Die Augen haben Angst, aber die Hände schaffen es trotzdem.«

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