von Matthias Langrock
Als der Historiker Fritz Stern 1979 in seiner Geburtstadt Breslau war, die inzwischen Wroclaw hieß, besuchte er auch die Villa, in der einst seine Großmutter gewohnt hatte. In dem Haus lebte mittlerweile ein polnischer Offizier, der fünf Jahre lang in Auschwitz, Birkenau und Buchenwald gefangen gewesen war. Der Mann, der dank der Emigration der Sterns in ihrem ehemaligen Haus lebte, hatte das Schicksal erlitten, dem Stern und seine Familie nur aufgrund ihrer Flucht aus Deutschland 1938 entgangen waren.
Sterns Freundin Marion Gräfin Dönhoff erzählte diese Anekdote anläßlich seines 70. Geburtstags 1996. Sie paßt zu dem Wissenschaftler und seinem Zugang zu seinem Fach. Geschichte ist nach Sterns Verständnis nicht vorherbestimmt und wird von Menschen verantwortet. Da Menschen stets zwischen mehreren Möglichkeiten wählen können, geschieht nichts unvermeidlich. Stern, der am 2. Februar 80 Jahre alt wird, entwickelt die Geschichte der Menschheit immer aus der Geschichte von Menschen. So bereits in seiner Doktorarbeit Kulturpessimismus als politische Gefahr 1953. Sie beschreibt anhand dreier biographischer Skizzen, wie dem Nationalsozialismus in Kaiserreich und Weimarer Republik der geistige Boden bereitet wurde. Die Arbeit brachte ihm eine Professur an der Columbia University in New York ein, an der er bis 1997 regulär und seitdem als Emeritus lehrt und forscht.
Sterns Fachgebiet ist Deutschland. Er gilt als einer der profundesten Kenner der neueren Geschichte seiner ehemaligen Heimat. In seinem Hauptwerk, der Doppelbiographie Bismarcks und seines jüdischen Bankiers Gerson Bleichröder, Gold und Eisen, analysierte er 1979 den Antisemitismus im Kaiserreich. In einem Essay über den Nationalsozialismus als Versuchung grub er nach dessen Wurzeln. Deutschland, so Sterns These, habe seine auf Wissen und geistiger Stärke beruhende »Größe« bereits mit der Anzettelung des Ersten Weltkriegs »verspielt«, wie er es auch in einem 1996 erschienen Essayband unter eben diesem Titel darstellte. Die Gier nach Macht habe die Chance zerstört, das 20. Jahrhundert in positivem Sinne zu einem »deutschen« werden zu lassen.
Sterns Lebensthema, die moderne deutsche Geschichte, ist auch die Geschichte seines eigenen Lebens. Five Germanys I have known heißt sein neuestes Buch, das in diesem Jahr erscheinen wird. Der Sohn einer christianisierten deutsch-jüdischen Familie erlebte als Kind den Niedergang der ersten deutschen Demokratie und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Dem kaum Siebenjährigen war, erzählt er, schon damals klar, daß die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eine schlechte Zeit einläutete. Mit »Sorge« sei er groß geworden, zugleich auch mit einer »irrationalen Hoffnung«, daß es schon nicht so schlimm werden würde. Erst im August 1938 wanderten die Sterns in die USA aus, gewarnt von einem Wehrmachtsoffizier. Der fürchtete nicht etwa die Vernichtung der Juden, sondern wollte Vater Stern, einen Arzt, angesichts des bevorstehenden Kriegs vor der Einberufung schützen.
Fragt man Fritz Stern heute nach seiner Heimat, fällt ihm die Antwort schwer. Deutschland sei es jedenfalls nicht, »das war einmal«. Eine besondere Beziehung zu dem Land seiner Geburt hat sich Stern, amerikanischer Staatsbürger seit den vierziger Jahren, dennoch über all die Jahre erhalten. Er, der Emigrant, hat immer wieder erklärt, die Deutschen hätten sich eine zweite Chance erarbeitet. Sie haben es ihm unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1999 gedankt. Der Bundestag lud ihn 1987 als ersten Ausländer ein, zum Gedenken an den 17. Juni 1953 zu sprechen.
Als seine »Liebe« bezeichnet Fritz Stern Europa. Den Umbruch in Osteuropa 1989, den Kampf der polnischen Solidarnosc und die friedliche Revolution der Ostdeutschen betrachtet er mit Bewunderung. Das 20. Jahrhundert, für Stern eines der »Katastrophen und des Umgangs mit ihnen«, sei auch zu einem der »Selbstbefreiungen« geworden.
Im Sommersemester 2006 wird Stern als Gastprofessor an der Schiller-Universität in Jena lehren. Seine Studenten werden von ihm nicht nur vieles über die Geschichte ihres Landes lernen können, sondern auch über manche Schwächen ihres Fachs. »Geschichte ist an und für sich dramatisch, und es ist eine gewisse Kunst, sie langweilig darzustellen. Und die war schon immer gut entwickelt.« Für Fritz Stern trifft das zum Glück nicht zu.