von Marina Maisel
»London? Niemals! Wir konnten uns Bern oder Prag vorstellen, aber London?« Andriy Shvets ist noch immer ziemlich sprachlos. Die Reise, die gerade hinter ihm und weiteren 29 Neshumniks liegt, wie sich die Jugendlichen von »Neshama« aus dem Jugendzentrum der IKG nennen, hatte es aber auch in sich! Sie fuhren durch die Nacht, ohne zu wissen, wohin. Nur einer im Bus kannte die Ziele der verschwiegenen Routen: Rosch Lorin Nezer.
Die Idee des Neshama-Initiators war es, dieses Überraschungs-Machane zusammen mit den Madrichim vorzubereiten. Für fünf Tage steuerte die Gruppe Nacht für Nacht eine andere europäische Stadt an. Und jeden Morgen die Frage: In welcher Stadt sind wir gelandet?
Jeden Tag kurz vor sieben Uhr weckte Madrich Igor Schmulensohn die Reisegesellschaft per Lautsprecher. Seine Scherze brachten regelmäßig den ganzen Bus zum Lachen. »Wir sind in Venedig!«, behauptete er ganz seriös, als sie in Basel einfuhren. Als er dann zwei Tage später ebenso ernst erklärte »Welcome to London!«, wollte es niemand mehr glauben.
Erste Anlaufstation morgens war stets ein Schwimmbad, zum Duschen und Umziehen. Von neun Uhr an war die Gruppe auf den Beinen und erkundete die jeweilige Stadt. Schwerpunkt der Aktivitäten war dabei immer das jüdische Leben vor Ort. Nach etwa 14 intensiven Stunden kehrten die Jugendlichen zum Bus zurück und waren müde genug, die geheimnisvolle Fahrt zum nächsten Ziel zu verschlafen.
In jeder Stadt wurde nach dem Morgengebet in der Synagoge eine bedeutende Person der Stadt vorgestellt. An fünf Tagen haben die Jugendlichen dadurch etwas gelernt über Theodor Herzl in Basel, über Jean-Paul Sartre in Paris, über den Oberrabbiner von Großbritannien Jonathan Sacks in London, über Baruch Spinoza in Amsterdam und über Franz Rosenzweig in Berlin.
Der erste Tag führte nach Basel, einem zentralen Ort des Zionismus. Die Münchner kamen zum Casino, in dem 1897 der erste Zionisten-Kongress stattfand. Sie trafen Rabbiner Nissenholtz und den Geschichtsprofessor Simon Erlanger. In der Bibliothek der jüdischen Gemeinde hörten sie einen Vortrag über Zionismus. Am Abend bedankten sich die Münchner noch bei dem Basler Jugendreferenten Zwi Bebera für die Gastfreundschaft, um schon am nächsten Morgen die Straßen und Boulevards der französischen Hauptstadt zu bewundern. Nach dem Centre Pompidou und dem Memorial Museum führte der Weg zum jüdischen Viertel. »Juden sind hier überall«, schildert Andrey seine Eindrücke. »Wir waren in allen Städten mit Kippot unterwegs. Sonst haben uns die Leute immer angeschaut. Doch in Paris gibt es so viel Juden, dass niemand auf uns reagiert hat.«
Mittags probieren manche Neshumniks zum ersten Mal koschere Döner. Der Schriftsteller und Philosoph Marek Halter lädt am Nachmittag die Gruppe zu einem langen Gespräch zu sich nach Hause ein. Danach geht es kreuz und quer durch die Stadt: Louvre, Champs-Élysées, Arc de Triomphe und der Eiffelturm, der in der Nacht mit unzähligen Lämpchen funkelt und blitzt. Nach 14 Stunden Paris bringt der Bus die Jugendlichen zu ihrer großen Überraschung nach London.
Nach Gebet und Frühstück in der Marble Arch Synagoge und einem Treffen mit dem Rabbiner Lionel Rosenfeld bestaunen die Münchner den traditionellen Wachwechsel am Buckingham Palace. Obwohl die Neshumniks schon genug im Bus gesessen haben, will keiner sich die Sightseeing-Tour im Doppeldecker entgehen lassen. Im Londoner jüdischen Viertel Golders Green be-
suchen sie den Beit Din, das jüdische Gericht. Nach dem Mittagessen mit Fish & Chips und einem Gang durch die bekannte Oxford Street erwartet die Gruppe noch ein Highlight: das Musical »Blood Brothers«.
In Amsterdam am nächsten Tag regnet es. Doch das kann der Gruppe die Laune nicht verderben. Ganz landestypisch erobern die Jugendlichen auf Fahrrädern die niederländische Großstadt. Sie radeln durchs Zentrum ins jüdische Viertel. Der 19-jährige Wladislaw Gendelmann vermutet: »Touristen haben uns bestimmt für Einheimische gehalten, weil wir bei solchem Wetter Fahrrad gefahren sind. Wir sind jedenfalls öfter als Amsterdamer Sehenswürdigkeiten fotografiert worden.« Nass aber glücklich erreichen die Neshumniks Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Eine nächtliche Bootsfahrt durch die berühmten Grachten beschließt diesen Tag.
Am nächsten und letzten Tag der Reise wachen die Jugendlichen in Berlin auf. Sie besichtigen Schloss Bellevue. Im Kinosaal des Hollywood Hotels begegnen sie der Produzentin des Films »Der letzte Zug«, Alice Brauner. Vor der Abschlussparty im Sony-Centrum am Potsdamer Platz besuchen sie noch das Jüdische Museum. »Der Holocaust-Gedenkraum hat mich tief beeindruckt«, erzählt Wladislaw Gendelmann. »Dort war ein so kaltes, trübes Licht, man hörte den Straßenlärm, aber aus dem Raum selber drang kein Laut nach draußen. Nur eine Leiter führte – als einzige Hoffnung – ins Nirgendwo.«
Am nächsten Morgen trennen sich die Neshumniks nach dem letzten gemeinsamen Frühstück dieser Reise im Münchner Café Bracha. Ihre Eltern haben inzwischen bereits erfahren, wohin die Fahrt gegangen war. Denn jeden Abend hatten die Madrichim für sie noch Fotos und Berichte ins Internet gestellt.
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