Was war bisher unter den jüdischen Titeln dieses Jahr bei Ihnen der Renner?
Michael Wuliger: Der koschere Knigge – Trittsicher durch die deutsch-jüdischen Fettnäpfchen (S. Fischer). Zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland hat sich auch 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine Normalität herstellen lassen. Das ist die Ausgangslage von Michael Wuligers amüsanter Gebrauchs-anweisung für alle Gojim, sollten sie je einem leibhaftigen Juden begegnen. Alle deutsch-jüdischen Krankheiten sind hier versammelt.
Und was war der größte Flop?
Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941-1944. Gesänge des Todes (Ammann). Die Herausgabe dieser beiden Bände des letzten namhaften jiddischen Dichters ist eine verlegerische Großtat. Hervorragend von Hubert Witt aus dem Jiddischen übersetzt, hätte dieses Dokument, das erstmals auf Deutsch vorliegt, mehr Aufmerksamkeit verdient.
Zur Frankfurter Herbstbuchmesse kommen wieder Hunderte neue jüdische Titel auf den Markt. Empfehlen Sie daraus einen Roman.
Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr (Diogenes). Der neue Roman des holländischen Autors spielt im Israel des Jahres 2024. Das Land existiert zu diesem Zeitpunkt nur noch als Rumpfstaat. Obgleich eine sehr bedrängende historische Entwick-lung den Hintergrund der Geschichte bildet, kann man sich dem Sog dieses Buches nicht entziehen. Der Plot einer Kindesentführung aus politischen Gründen liest sich wie ein Thriller. Ein Meisterwerk.
... ein Sachbuch.
Daniel Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist (Siedler). Mit seinem Bestseller »Hitlers willige Vollstrecker« hat der amerikanische Wissenschaftler vor 13 Jahren die hiesige Historikerzunft auf den Plan gerufen. Eine ernsthafte Täterforschung deutscher Historiker war die Folge. Auch seinem neuen Buch liegen elementare moralische Fragen zugrunde: Was bringt Menschen dazu, ihre Nachbarn – Männer, Frauen und Kinder – zu töten, wie beginnt überhaupt das Morden, und warum sehen wir meist tatenlos zu? Richtige Fragen zu stellen, kann Lösungen evozieren.
... ein Kinderbuch.
Katja Behrens: Der kleine Mausche aus Dessau. Moses Mendelssohns Reise nach Berlin im Jahre 1743 (Hanser). Zum ersten Mal erzählt die Berliner Autorin die Lebensgeschichte von Moses, dem Sohn des Gemeindedieners Mendel, jugendgerecht für alle ab zwölf Jahre. Wir begleiten den jungen Mendelssohn, der sich 14-jährig zu Fuß nach Berlin aufmacht durch viele Stationen, bis aus dem buckligen und schüchternen Jungen der große jüdische Gelehrte wird.
Zum Schluss etwas Persönliches: Sie haben vergangene Woche das Bundesverdienstkreuz erhalten. Hatten Sie angesichts der Debatte um Felicia Langer Bedenken, die Auszeichnung anzunehmen?
Nein, dabei ging es ja nicht um das Bundesverdienstkreuz als solches, sondern um die Auszeichnung einer politisch extremen Position. Mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wird meine jahrzehntelange Arbeit öffentlich gewürdigt. Darüber freue ich mich sehr. Ich fasse die Auszeichnung als Anerkennung meines ganz persönlichen Eintretens für die jüdische Kultur, insbesondere die Literatur zum Judentum auf. Ich konnte im Laufe der Jahre viele Impulse auslösen, Juden und Nichtjuden über die Literatur zusammenführen und der jüdischen Kultur im öffentlichen Raum Gehör verschaffen. Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an mich lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf dieses Anliegen und auf sonst nichts.
Mit der Leiterin der Literaturhandlung Berlin/München und Herausgeberin der »Literarischen Welt« sprach Jonathan Pauzner. Foto:imago