von Ulrich W. Sahm
Juden feiern kein Weihnachten. Das ist klar. Aahron Dontscho, Touristenführer und Erforscher von Sitten und Gebräuchen im Heiligen Land, erzählt dennoch von einem »Weihnachtsfest«, das in den Hochburgen der jüdischen Orthodoxie begangen wird. Dabei geht es um ein Fest der ganz besonderen Art: »An Heiligabend vertreiben sich die Talmudschüler die Zeit mit Schach- und Kartenspiel. Sie lesen weltliche Zeitungen, was ihnen sonst verboten ist.«
Bei den Kabbalisten gebe es sogar ein Verbot, in der Weihnachtsnacht Geschlechtsverkehr zu haben. Dem daraus geborenen Kind drohe, ein Mumar zu werden, ein Konvertit zum Christentum, weil in dieser Nacht die Klipot, parasitenhafte böse Kräfte, besonders intensiv umherschwirren.
Das Anti-Fest wurde in Osteuropa erfunden und heißt »Nital« oder »Nittel«. Der Begriff könnte aus dem lateinischen »Natalis« (Geburt) stammen, woraus das französische »Noel« entstand, aus dem jiddischen »Nit« für »Nichts« oder vielleicht gar vom hebräischen Wort »Nitlah« (gehängt), zumal orthodoxe Juden von Jesus als dem »Nitlah«, dem Aufgehängten, reden.
Elieser Segal, der das jüdische »Nittel« erforscht hat, bezeichnet den ultraorthodoxen Brauch, an Heiligabend nicht die Tora zu lernen als »pathologisch, wenn einer auf die eigene spirituelle Erbauung verzichtet, nur um dem Anderen seinen religiösen Glauben zu versagen«. Solche Engstirnigkeit sei vielleicht in mittelalterlichen Ghettos nachvollziehbar gewesen, schreibt Segal. Diese Sitte auch heute noch weiterzuführen, sei aber weltfremd.
Die sogenannten Littauer wandten sich gegen den Brauch. Umso mehr halten ihre Konkurrenten, die Chassiden, diese Nacht für eine finstere metaphysische Voraussicht, die mit größter Wachsamkeit begangen werden müsse.
Die ältesten Erwähnungen dieses jüdischen Anti-Weihnachten stammen von Konvertiten des 17. Jahrhunderts. Die jüdische Volksseele hielt Jesus für einen Anti-Heiligen, der am 24. Dezember aus Abwasserrohren gekrochen kommt, um Ketzer zu bestrafen und Kinder zu ängstigen. Um das zu verhindern, mußten fromme Juden wachsam und nicht durch das Studium ihrer Heiligen Schriften abgelenkt sein.
Der Frankfurter Rabbiner Nathan Adler (1742-1800) hielt das Lernverbot vielmehr für ein Zeichen der Trauer wegen des vom Christentum über die Juden gebrachten Unheils. Sein Schüler, Chatam Sofer von Preßburg, empfahl, daß die Juden nach Mitternacht wieder das Torastudium aufnehmen sollten, weil »der Himmel« sie sonst mit gläubigen Christen verwechseln könnte.
Die fromme israelische Zeitung Hamodia berichtete über eine weitere Unsitte an diesem »Unfest«. Während die Christen feierten, zerriß der größte Admor (Rabbi) Klopapierrollen in einzelne Blätter. So schuf er Vorrat für das ganze Jahr, denn am Schabbat ist es einem frommen Juden verboten, Papier zu zerreißen. Dahinter stecke die kabbalistische Vorstellung, daß das Christentum »vom Körper des Judentums ausgestoßen worden sei«. Dank kommerziell für den orthodoxen Markt in Israel produziertem »Einzelblatt-Klopapier« sei diese Sitte heute nicht mehr üblich. Anders Aahron Dontscho. Er hat von dieser noch lebendigen Sitte im Jerusalemer Viertel Mea Schearim gehört: »Sie tun es, um jeden Schabbat daran erinnert zu werden, wann sie die Papiere zerrissen haben.«
Das Nittel-Fest ist in den Orthodoxenvierteln Jerusalems kein öffentliches Thema. Doch gibt es einen jungen Orthodoxen, der sich durch besondere Neugierde auszeichnet und offen genug ist, selbst über die eigentümlichsten Gebräuche in seinen sonst eher verschlossenen Kreisen zu plaudern. Er bestätigte, daß der Brauch auch heute noch in Mea Schearim lebendig sei. »Wir trinken Wodka und spucken auf den Boden.« Jankele (er bittet darum, seinen echten Namen nicht zu veröffentlichen) besucht auch Ausstellungen, die eigentlich tabu seien. So erschien er kürzlich bei einer fotografischen Darbietung einer Mikwe, dem Tauchbad für Frauen,. Dort ließ er sich mit schwarzem Kaftan und Seitenlöckchen nur von hinten vor dem Foto einer nackten Braut ablichten.