von Marina Maisel
Es ist einer der angesehensten Literaturpreise des Landes, der Geschwister-Scholl-Preis. Der 29. Preisträger dieses seit 1980 alljährlich vergebenen Preises ist in diesem Jahr der israelische Schriftsteller David Grossman. Er wird für den 2008 erschienenen Essayband Die Kraft zur Kor- rektur. Über Politik und Literatur geehrt, der bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden ist. Ausgezeichnet wird überdies sein Gesamtwerk, in dem vor allem die Romane: Stichwort: Liebe, Das Ge- dächtnis der Haut, Sei du mir das Messer; die Essays zur Politik: Diesen Krieg kann keiner gewinnen sowie die Bücher für Jugendliche Zickzackkind und Wohin du mich führst zu nennen sind.
Mit dem Geschwister-Scholl-Preis würdigt die Jury Grossmans »erfindungsreiche und literarisch faszinierende Art, von den menschlichen Leidenschaften, Traumata und Ängsten unserer Zeit zu erzählen«. Sie ehrt damit einen Autor, »der auch unter schwierigsten politischen und persönlichen Umständen den Mut zum unabhängigen Denken und zum ›Einfühlen in den Anderen‹ nie aufgegeben hat.« Der Preis wird gemeinsam vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Landeshauptstadt München vergeben.
Mit dieser Auszeichnung soll ein literarisches Werk besonders gewürdigt werden, »das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und äs- thetischen Mut zu fördern und dem ge- genwärtigen Verantwortungsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.« Es soll damit die Erinnerung an die Zivilcourage der Geschwister Scholl, die in dem Kampf gegen die nationalsozialistische Maschinerie ihr Leben verloren haben, wach halten.
Traditionell findet die Verleihungszeremonie in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) statt. Ein Quartett des Orchesters Jakobsplatz München umrahmt in diesem Jahr die Feier musikalisch. Der Rektor der LMU, Professor Bernd Huber, begrüßt die anwesenden Gäste, allen voran den Preisträger. Wolf Dieter Eggert, der Vorsitzende des Landesverbandes Bayern des Börsenverein des Deutschen Buchhandels unterstreicht in seiner Rede, David Grossman liefere mit seinen Büchern »unschätzbare Beiträge zu der wahrscheinlich niemals endgültig zu beantwortenden Kardinalfrage, die alle große Kunst umtreibt: Was ist das, ein Mensch?«
Die Festredner versuchen auf ihre Weise dem Menschen David Grossman näher zu kommen. Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren. Sein Vater kam 1936 als Kind aus Polen nach Israel. Seine Mutter wurde in Israel geboren. Für sie sei David Grossman ein Pionier, sagt die Literaturwissenschaftlerin Rachel Salamander in ihrer Laudatio. Grossman gehöre zu den ersten, die in Israel den Holocaust literarisch thematisierten und zu den ersten seiner Generation, die über Palästinenser schrieben. Rachel Salamander zitiert bewusst die Flugblätter der »Weißen Rose«, weil in ihnen die Dinge klar und unverfälscht benannt würden. »In diesen Flugblättern wird Tacheles geredet. Bei David Grossman wird auch Tacheles geredet.« Grossman sei ein Sprachkritiker, der wisse, dass Menschen durch eine richtige Erziehung lernen können, sich von der Wirklichkeit der verdorbenen Sprache zu befreien. Grossman selbst sagt: »Präzises Formulieren hat heilende Wirkung, es reinigt von den Manipulationen der Sprachhändler, man wird wieder ein Mensch.« Grossman sei überdies »ein Freund des Friedens, aber kein Pazifist«. So hatte er den Libanon-Krieg im Jahr 2006, obwohl er dabei seinen Sohn Uri verlor, für legitim gehalten. Denn die Existenz des Staates Israel sei für ihn gleichzeitig ein »politisches, nationales und menschliches Wun- der«, auch wenn ihn vieles in der Realität »empört und deprimiert«. Auch Oberbürgermeister Christian Ude geht auf das Existenzrecht Israels ein. »München steht zur Solidarität mit dem Staat Israel und ge- steht ihm das Existenzrecht ohne wenn und Aber zu, selbst wenn die israelische Regierungspolitik manches Rätsel aufgibt.« Ein offener Dialog, so Ude, sei aber ohne jene Kraft zur Korrektur, die David Grossman zu Recht fordere, nicht denkbar. Nachdem David Grossman aus den Händen von Christian Ude und Wolf Dieter Eggert die Urkunde entgegengenommen hat, ergreift er selbst das Wort: »Willkür, Tyrannei, und die Art, wie Menschen ihnen begegnen, beschäftigen mich bei allem, was ich schreibe«. In seinem Roman Bis ans Ende des Landes, der nächstes Jahr auf Deutsch erscheinen wird, und auch in Die Kraft zur Korrektur habe er unter anderem versucht, »die Lebenswirklichkeit im heutigen Israel zu beschreiben: Einerseits schreibt er über die Gefahr, den Ängsten und der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, die der andauernde Konflikt mit den arabischen Staaten erzeugt. Zum andern erzählt er von den gewaltigen Anstrengungen, die intime und verletzliche Zelle der Familie in einer derart brutalen Wirklichkeit zu beschützen.« Grossman bewegt dabei vor allem die Situation in Israel, in der Israelis und Palästinenser längst zu Geiseln geworden sind, die mit jedem Tag weniger »Handlungsfreiheit, Gedankenfreiheit und Willensfreiheit« haben. David Grossman zeigt sich aber überzeugt, dass beinahe in jeder Situation, auch in einem System absoluter Willkür, immer ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit bleibe. Für ihn stehen dafür die Geschwister Scholl, die in einer Welt des Schweigens und Wegschauens ihre Augen eben nicht verschlossen hätten, sondern den Mut aufbrachten, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch wenn die Geschwister Scholl vom System ermordet worden seien, so seien sie dennoch keine Opfer. In einer Zeit, in der Millionen Menschen »Wir« grölten, hätten sie standhaft »Ich« gesagt.
Für den Preisträger gab es nach seiner bewegenden Rede vom Publikum lang anhaltenden Applaus, auch das eine Ehre für den Ausgezeichneten. Parallel zur Preisverleihung wurde – wie es schon lange Tradition ist – in der Gedenkstätte »Weiße Rose« eine Ausstellung eröffnet. In diesem Jahr hat sie den Titel »Christoph Probst und die Weiße Rose«.