von Willi Germund
Die Synagoge von Bangkok liegt in einer versteckten Seitenstraße. Gegenüber laden einige Tagelöhner schwere Säcke auf einen Lastwagen, der vor der Lagerhalle eines chinesischen Großhändlers geparkt ist. Ein paar hundert Meter entfernt absolvieren Touristen einen regelrechten Spießroutenlauf entlang von Massagesalons. Hier mittendrin sitzt Rabbiner Yosef Kantor im ersten Stock der Beth-Elisheva-Synagoge in einem beigen Sessel. Kantor ist ein sehr beschäftigter Mann. Am Vortag hat der 39-Jährige mit einem Schächter, der einmal im halben Jahr aus Israel anreist, Rinder geschlachtet. Jetzt sind die Kühlschränke eines thailändischen Unternehmens wieder für sechs Monate mit koscherem Fleisch gefüllt. Und vor wenigen Stunden erst war Kantor selbst mit dem Schächten von Hühnern beschäftigt. Nun sitzt er und hat Zeit.
Im Schoß hält der Rabbiner eine Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Chabad-Gemeinde Bangkok aus dem Jahr 2003. Kantor, ein stämmiger Mann mit kurzem angegrauten Haar, unterdrückt den ihn plagenden Husten und erzählt über das Leben der kleinen, rund 300 Familien umfassenden jüdischen Gemeinde, die er seit dem Jahr 1993 betreut. »Juden sind in Thailand nie ein Teil des sozialen Gewebes geworden wie in anderen Ländern«, sagt Kantor, »es ist sehr schwer, die thailändische Staatsbürgerschaft zu bekommen.« 95 Prozent der Thailänder sind Buddhisten. Es gibt ein paar Moslems und Christen.
Bangkok ist ein Asphaltdschungel mit rund 12 Millionen Menschen, in dem sich tagsüber der Verkehr staut und nachts die Neonlichter der Rotlichtbezirke hell leuchten. Es ist eine Welt, in die Kantor und seine chassidischen Kollegen in ihren langen Bärten und den schweren schwarzen Schuhen nicht so recht hineinpassen wollen.
Knapp 15 Jahre wohnt Kantor nun schon in Bangkok – und immer noch erlebt er Überraschungen. »Kürzlich habe ich an einer Universität über das Judentum gesprochen«, sagt er, »und ich stellte fest, dass 28 der 30 Zuhörer in safranfarbenen Kutten buddhistischer Mönche vor mir saßen.« Thailand ist berühmt für seine Gastfreundschaft – und für seine Toleranz. »Die Thailänder lassen uns tun, was wir wollen«, sagt Kantor, »sie wundern sich über nichts und akzeptieren unsere Bräuche.«
Die ersten jüdischen Händler tauchten offenbar schon Anfang des 17. Jahrhunderts in Thailand auf. Der erste Jude, der jemals im Königreich Siam lebte, kam im Jahr 1683. Offiziell diente Abraham Navarro als Übersetzer der English East India Company. Aber er stand immer unter dem Verdacht, für seinen Arbeitgeber zu spionieren.
Die Familie Rosenberg, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bangkok Quartier bezog, hatte mit politischer Ranküne nichts am Hut. Sie etablierte das »Hotel Europa« und erhielt die thailändische Staatsbürgerschaft. Später kamen vereinzelte Familien aus Afghanistan und dem Iran. Während der Nazi-Zeit verschlug es eine Reihe von deutschen Juden nach Bangkok, die aber später fast alle Thailand wieder verließen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die jüdische Gemeinde von Geschäftsleuten geprägt, die im Juwelen- und Edelsteingeschäft aktiv waren. Aber die meisten Vorkommen in Südostasien sind inzwischen leer geräumt, Bangkok verlor seine Bedeutung als Umschlagplatz, viele der Händler brachen ihre Zelte wieder ab.
Im Jahr 1992 aber beschlossen sie, dass sie einen Rabbiner wollten – den ersten, der je sein Domizil in Thailand beziehen würde. Sie wandten sich an Chabad nach Brooklyn. Dort führte der Lubawitscher Rebbe eine Gemeinde, die ihn so tief verehrte, dass manche glaubten, er sei der Messias. Yosef Kantor, der in Melbourne aufgewachsen war, wurde nach Bangkok geschickt und von den dortigen Juden akzeptiert. »Unser Leiter konnte wegen eines Schlaganfalls nicht mehr reden«, erinnert sich Kantor, »er konnte nur noch nicken oder den Kopf schütteln.« Kantor fragte ihn, ob er nach Bangkok gehen solle. Die Antwort: ein Nicken. Zwei Jahre später starb der Rebbe.
Die Aufgaben, vor die sich Rabbi Kantor jetzt in Thailand gestellt sieht, haben kaum noch etwas mit den Vorstellungen zu tun, die er sich damals in der ersten Hälfte der 90er-Jahre bei Dienstantritt gemacht hat – und sie sind so einmalig, dass sie mit kaum einem anderen Land vergleichbar sind. »Die einfachste Art, einen Juden in Thailand zu erkennen«, schrieb kürzlich die in den USA erscheinende Wochenzeitung The Jewish Press, »sind seine Füße: Man erkennt sie an den ›Crocs‹.« Gemeint sind Plastikschlappen in allen Farben des Regenbogens, die bevorzugte Fußbekleidung von rund 100.000 bis 120.000 jungen Israelis, die jährlich als Rucksacktouristen zur Vollmondparty auf Koh Phangan oder zum Elefantenritt in der Umgebung der nordthailändischen Stadt Chiang Mai ins »Land des Lächelns« strömen.
Sie finden selten den Weg zur Beth-Elisheva-Synagoge von Bangkok. Stattdessen fand Rabbiner Kantor den Weg zu den jungen Leuten. Er eröffnete ein Chabad House in der Nähe der Khao San Road. Dort versammeln sich junge Leute aus aller Welt, die oft mit viel Enthusiasmus und wenig Bargeld Südostasien bereisen. Auf der Speisekarte stehen Phad Thai, ein vegetarisches Gericht – und koschere Mahlzeiten. »Wir wollen, dass Juden hier wie Juden leben können«, sagt Kantor, dessen Tracht und Weltanschauung kaum etwas mit der Kundschaft zu tun haben dürfte, die Tag für Tag teilweise spärlich bekleidet in das Chabad House kommt – oder am Freitagabend zu einem kostenlosen Mahl erscheint.
Es mag ein schwieriger Job sein für einen Rabbiner wie Kantor. Schließlich wechseln die Ansprechpartner im Chabad House
nahezu täglich, sodass kaum feste Bindungen entstehen. Aber Kantor ist überzeugt: »In Israel leben orthodoxe und säkulare Juden streng getrennt. Hier in Thailand spielt das kaum eine Rolle.« So erfolgreich ist die Idee vom Chabad House, dass Rabbi Kantor und seine vier Kollegen inzwischen die gleichen Begegnungsstätten auf der Insel Koh Samui und in der Stadt Chiang Mai eingerichtet haben, wo täglich bis zu 200 Besucher kommen. Ein Zuschussgeschäft ist es trotzdem, aber das kennt Chabad ja aus vielen Gegenden der Erde.