von Hannes Stein
Schauen wir der traurigen Wahrheit in ihr betrübtes Antlitz: Es existieren keine richtig guten Chanukka-Lieder. Im Grunde genommen gibt es nur zwei. Das eine ist »Maos zur«, das eine Schöne Melodie hat, die das Kunststück fertigbringt, zugleich melancholisch, erhaben und heiter zu sein. Aber der Text! »Meine Seele wurde mit Bösem gesättigt, vor Kummer verging meine Kraft... Bitteren Wein trank ich... Es dauert für uns lange, als ob der schlechten Tage kein Ende wäre...« Der andere Chanukka-Song ist »Sewiwon, sof sof sof, Chanukka hu chag tow.« Da schweigt des Sängers Höflichkeit.
Nun hätten wir Alteuropäer in dieser Hinsicht von Amerika allerhand erwartet. Schließlich beherbergen die USA eine nicht ganz winzige Diasporagemeinde, die nach Auskunft der Herren Walt und Mearsheimer sogar Leitlinien der amerikanischen Außenpolitik bestimmt! Da könnte man auch ein paar fetzige Chanukka-Songs erwarten. Aber Fehlanzeige. Und warum? Weil die amerikanischen Juden über die Jahrzehnte alle Hände damit zu tun hatten, Weihnachtslieder zu schreiben. Hier eine unvollständige Liste: »Chestnuts Roating on an Open Fire« (Mel Tormé, Robert Wells), »Santa Claus Is Coming To Town« (J. Fred Coots, Haven Gillespie), »White Christmas« (Irving Berlin), »Let It Snow!« (Sammy Cahn, Jule Styne), »Rudolph The Red Nosed Reindeer« (Johnny Marks), »Silver Bells« (Jay Livinstone, Ray Evans).
Doch wie jüdisch sind diese Songs zu einem urchristlichen Fest? Greifen wir uns aus dem großen Liedersack ein paar besonders eindrucksvolle Beispiele heraus. Da ist zunächst das Lied von dem Rentier, das brav den Weihnachtsmannschlitten ziehen half und ob seiner Rotnasigkeit von all seinen Kollegen verachtet wurde. Wird hier nicht die jüdische Erfahrung in Amerika geschildert? Anfangs prasseln Hohn und Spott auf den Außenseiter nieder (sogar auf den antisemitischen Topos von der jüdischen Nase wird subtil verwiesen), der Eintritt in die gojischen Clubs bleibt ihm verwehrt (»They never let poor Rudolph join in any reindeer games«), zu guter Letzt aber avanciert der Jude unter den Rentieren just seiner Eigentümlichkeit wegen zum Licht für die Völker. Sogar eine Anspielung auf den 118. Psalm (»Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden«) kann man hier heraushören.
Komplizierter und einfacher zugleich ist die Sache bei »Let it snow«. Sie ist kompliziert insofern, als an diesem Lied nichts eindeutig jüdisch genannt werden kann; aber auch einfacher, weil es sich hier eigentlich um gar kein Weihnachtslied handelt. Das Christfest wird gründlich säkularisiert. Der Song erzählt nur davon, dass es ein Liebespaar drinnen schön warm hat, während es draußen schön schneit: »The fire is slowly dying / And, my dear, we’re still goodbying / But as long as you love me so / Let it snow! Let it snow! Let it snow!«
Damit nähern wir uns pfeilgerade jenem Weihnachtslied, das die Essenz Amerikas in sich birgt. Viele Leute glauben, es stamme von Bing Crosby, der es als Sänger zu einem Welterfolg machte. Geschrieben aber hat es Irving Berlin, geboren 1888 als Israel Baline, wahrscheinlich am 11. Mai in der sibirischen Stadt Tjumen. »Gott gab Moses die Zehn Gebote«, schrieb Philip Roth, »und dann gab er Irving Berlin ... ›White Christmas’«. Berlin, so Roth, habe das Christentum »in wertlosen Kitsch« verwandelt. »Aber nett! Furchtbar nett! So nett, dass die Gojim gar nicht merken, was da auf sie niedergefahren ist... Bing Crosby ersetzt Jesus als geliebter Sohn Gottes ... Wenn verkitschtes Christentum ein Christentum bedeutet, das vom Judenhass gereinigt wurde, dann dreimal Ja-Hurra zum Kitsch.«
Stimmt alles, aber es ist nur eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite plaudert Jody Rosen in ihrem Buch White Christmas – The Story of an American Song aus: Die früheste Kindheitserinnerung von Irving Berlin war, wie sein Elternhaus im Winter bei einem Pogrom niedergebrannt wurde. Gut möglich, dass dies just zur Weihnachtszeit geschah. Und: 1928 starb ihm am 24. Dezember sein Sohn. Jener Abend, an dem die Christenheit die Geburt des Welterlösers feiert, war für Irving Berlin nur eines: die »Jahrzeit« seines toten Kindes. In der Melodie von »White Christmas«, die gewagte Tonschritte und melancholische Harmonien enthält, kann man einiges davon hören. Ja, dieses Weihnachtslied ist uramerikanisch. Und es ist gute jüdische Musik.