Knechte

Freiheitsscheu

von Rabbiner Joel Berger

Die Kinder Israels sind nach dem Auszug aus Ägypten an der Grenze zum Heiligen Land angelangt. Darüber berichtet unsere Parascha für diesen Schabbat im Sefer Bamidbar, dem vierten Mosebuch.
Vor der Landnahme sandten unsere Vorfahren zweimal Kundschafter aus, um das Land auszuspionieren. Das erste Mal, darüber berichtet dieser Wochenabschnitt, hatte Mosche sie geschickt, das zweite Mal war Joschua der Auftraggeber. Zwischen diesen beiden Unternehmungen gibt es, außer der Zeitspanne – es liegen fast 40 Jahre zwischen beiden – auch einen anderen erheblichen Unterschied.
Mosche hatte zwölf Kundschafter, in Vertretung der zwölf Stämme Israels, ausgesandt; Joschua dagegen betraute nur zwei Männer mit dieser Aufgabe. Das vierte Buch Moses schildert die verheerenden Folgen der verleumderischen Berichterstattung, die von der Mehrzahl der zwölf Kundschafter abgegeben wurde. Diese beurteilten die Möglichkeiten der Landnahme wegen der Übermacht der Einwohner als fast völlig aussichtslos. Die kleinmütigen Berichte verunsicherten das Volk und brachten es gegen Mosches Führung auf. Er sah ein, dass sein Volk, die vor Kurzem befreiten Sklaven, für die Landnahme noch nicht reif waren. Auf G’ttes Geheiß mussten sie von der Grenze Kanaans abdrehen und 40 Jahre in der Wüste umherwandern – bis eine neue Generation, seelisch wie moralisch gestärkt, das Land in Besitz nehmen konnte.
Über diese Episode der Kundschafter sammelte sich im Laufe der Zeit eine reichhaltige exegetische Literatur unserer Weisen. Einer der modernen Kommentatoren äußerte die Meinung, dass Mosche die ausgesandten Kundschafter, die die zwölf Stämme des Volkes vertraten, auf die Probe stellen wollte. Denn er habe ausreichend Kenntnis über das Land gehabt, schließlich war er im Hause des Pharaos in Ägypten erzogen worden. Kanaan stand damals unter der Oberhoheit Ägyptens, was vermuten lässt, dass man in Ägypten über das Nachbarland, über seine Einwohner, über seine Stärke bestens Bescheid wusste. Daher war es wohl für Mosche wichtiger, die Entschlossenheit und die Willenskraft der Stammesvertreter zu prüfen, um daraus auf die Gesinnung des ganzen Volkes zu schließen.
Das Wort G’ttes an Mosche lautete nicht: »Sende Spione nach Kanaan«, sondern: »Sende Männer, einen aus jedem Stamm.« Es ist unwichtig, ob sie sich als Spione bewähren, wichtiger ist, dass durch ihre Berichte die Gesinnung des Volkes erkennbar wird. Es ist wesentlich, dass jeder Stamm angemessen vertreten sein sollte, damit die Israeliten später keinerlei Einwände erheben können.
Als dann die Kundschafter und ihre Mission durch verleumderische Berichte über das Land scheiterten, war das in gewissem Sinne das Versagen des ganzen Volkes Israel. Deshalb traf sie alle die gleiche Strafe: 40 Jahre mussten sie in der Wüste verbringen, bis diese mutlose Generation ausstarb.
Manche Gelehrte entdeckten in der Erzählung über die Kundschafter einen Widerspruch. Als das Volk damals das Goldene Kalb anfertigen ließ, hatte es das ver- ächtlichste aller biblischen Vergehen begangen: Götzenanbeterei. Dennoch blieb dem Volk auch danach der Weg ins Heilige Land nicht verschlossen. Nach den Berichten der Kundschafter jedoch musste es zur Strafe 40 Jahre in der Wüste umherwandern, bis eine neue Generation mit anderer Gesinnung und neuem Bewusstsein sich den Weg nach Kanaan freimachen konnte. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Die Episode des Goldenen Kalbs war noch vor der Offenbarung am Sinai geschehen. Das Volk ließ sich damals den Götzen anfertigen, weil es verunsichert war. Mosche war vom Berg immer noch nicht zurückgekehrt. Da sagten sie: »… wir wissen nicht, was diesem Mann Mosche widerfahren ist, der uns aus Ägypten geführt hat« (2. Buch Moses 32,1). Mosche selbst gab nach seiner Rückkehr Aaron die Schuld für das Vergehen: »Was hat dir das Volk getan, dass du eine so große Sünde über sie gebracht hast« (2. Buch Moses 32,21). Die harte g’ttliche Strafe ist damals ausgeblieben, weil das Volk dem ägyptischen Tierkult aus der Verunsicherung heraus huldigte.
Ganz anders wurde die Lage nach dem Bericht der zehn Kundschafter bewertet. Diese haben mit ihrer Einschätzung über die Möglichkeiten der Landnahme das Volk verunsichert und aufgehetzt. Das ging so weit, dass es die Forderung aufstellte: »Lasst uns einen (anderen) Hauptmann bestimmen und wieder nach Ägypten ziehen« (4. Buch Moses 14,4). Denn sie dachten: »Der Herr ist uns gram; darum hat er uns aus Ägypten geführt, … uns zu vertilgen« (5. Buch Moses 1,27).
Diese Aussagen beinhalten nicht nur Kleinmut, sie waren ein Aufruhr gegen die gewonnene Freiheit. Daher musste dieses Geschlecht in der Wüste bleiben. Eine neue Generation, die die Sklaverei nicht erlebt hatte und die Gesinnung von Knechten nicht kannte, wurde ins Land der Freiheit geführt. Das letzte Geschlecht, das noch den ägyptischen Herren diente, konnte nicht das erste Geschlecht in der erlösenden Freiheit sein. Es musste in der Wüste eine junge, unbelastete Generation für das verheißene Land aufwachsen.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Bundestagswahl

Russlands Außenminister Lawrow lobt AfD und BSW

Es gebe in ihren Äußerungen »viel Vernünftiges«

 14.01.2025

Helsinki

Scholz: Leben der Geiseln muss oberste Priorität haben

Über die Verhandlungen um eine Waffenruhe im Gazastreifen heißt es, ein Abkommen sei greifbar. Der Bundeskanzler hofft auf einen Abschluss

 14.01.2025

Karlsruhe

Verdacht der Volksverhetzung: Polizei ermittelt gegen AfD

Es geht um ein in sozialen Netzwerken gepostetes »Abschiebeticket«. Die zumindest in Teilen rechtsextremistische Partei überschreitet immer wieder Grenzen

 14.01.2025

Vatikan

Papst verurteilt Massaker der Hamas und kritisiert Israel

Regelmäßig steht der Papst in der Kritik, er habe den Terrorangriff der Hamas auf Israel nicht klar genug verurteilt. In seinem neuen Buch tut er genau das, wirft aber auch Israel vor, Terror zu produzieren

von Severina Bartonitschek  14.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Marburg

»Biodeutsch« ist »Unwort des Jahres« 2024

Diskriminierend und »eine Form von Alltagsrassismus«: So stuft die Jury den Begriff ein, wenn er wörtlich verwendet wird. Zum »persönlichen Unwort« der Mitglieder Cheema und Mendel wurde »importierter Antisemitismus«

 13.01.2025

Riesa

Massive Proteste gegen AfD-Bundesparteitag 

Mehrere tausend Menschen sind seit dem frühen Samstagmorgen in der sächsischen Stadt gegen den AfD-Bundesparteitag auf die Straße gegangen

 11.01.2025

Medien

Medienwissenschafter: Erleben Großangriff auf unabhängigen Journalismus

Der öffentliche Raum leide unter »sehr reichen, sehr mächtigen Journalismus-Verächtern«

 10.01.2025

USA

Mel Gibson: »Mein Zuhause sah aus wie Dresden«

Zahlreiche Stars sind von der gewaltigen Feuerkatastrophe in Kalifornien betroffen. Auch Mel Gibsons Haus fiel den Flammen zum Opfer. Nach antisemitischen Einlassungen in der Vergangenheit irritiert er nun einmal mehr mit unpassenden Vergleichen

 10.01.2025