von Ruth Ellen Gruber
Turins markantester Bau hat eine steile Kuppel, einen in den Himmel strebenden Turm und war ursprünglich als Synagoge geplant. Das unübersehbare Wahrzeichen der italienischen Stadt, in der derzeit die Olympischen Winterspiele stattfinden, heißt Mole Antonelliana.
Der Bau, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen wurde, sollte mit seinen großzügigen Dimensionen die Freiheit, den Stolz und den Wohlstand der kurz davor emanzipierten Juden Turins feiern. Allerdings trieb das ehrgeizige Projekt die jüdische Gemeinde beinahe in den Bankrott. Am Ende verkaufte sie das Gebäude im Jahr 1877 an die Stadt, lange bevor es fertiggestellt war. Eine weniger eindrucksvolle, aber immer noch reich ge- schmückte Synagoge, deren vier Türmchen mit Zwiebelaufsätzen versehen sind, wurde in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts errichtet. Im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bomben schwer beschädigt, wurde sie 1949 wieder aufgebaut und wird bis heute genutzt.
Die jüdische Gemeinde der Stadt ist heute nicht groß. Ihr gehören etwa 1.000 Menschen an, sagt Gemeindemitglied Arturo Tedeschi. Er nennt die Gemeinde »klein, aber lebendig«, auch wenn die Mitgliedschaft beständig sinke. Für Besucher der Olympischen Winterspiele gibt es die Möglichkeit, in einer großen Multimediaausstellung etwas über die jüdische Gemeinde, ihre Geschichte und ihr Erbe zu erfahren. »Es handelt sich nicht einfach um eine Zusammenstellung von Fotografien oder Objekten, sondern wirklich um eine Reise durch die Sitten und Traditionen des jüdischen Volkes«, sagt Kurator Riccardo Mazza, dessen audiovisuelle Installationen den Mittelpunkt der Ausstellung »Jüdisches Leben und jüdische Kultur entdecken« bilden.
Olympia-Gäste können auch eine ganze Reihe von Klein- und Mittelstädten im Piemont besuchen, wo viele außergewöhnliche Zeugnisse des jüdischen Erbes von der Vielfältigkeit jüdischer Geschichte in der Region künden. Dazu gehören ehemalige Ghettobezirke, jüdische Friedhöfe und üppig ausgeschmückte Synagogen. Einige der piemontesischen Synagogen wurden vor nicht langer Zeit renoviert, ein Dutzend davon steht Besuchern offen.
Das eindrucksvollste jüdische Gotteshaus des Piemont befindet sich in Casale Monferrato, südlich von Turin. Sie wurde 1565 im Herzen des alten jüdischen Ghettos errichtet und in den darauf folgenden zwei Jahrhunderten im Rokokostil vergrößert, umgebaut und renoviert. Zur verschwenderischen Ausstattung gehören gigantische vergoldete Kronleuchter und weiße, kobaltblaue und goldfarbene Wände, auf denen vergoldete Stuckornamente die hebräischen Inschriften rahmen. Die Lade, in der die Torarollen aufbewahrt werden, weist korinthische Säulen auf, die Schnitzereien auf dem Fries und dem Sims sind aufwendig gearbeitet.
1969, nach der vom italienischen Staat getragenen vollständigen Restaurierung, wurde die Synagoge zum Nationaldenkmal erklärt und als jüdisches Museum dem Publikum zugänglich gemacht. Die winzige jüdische Gemeinde der Stadt sponsert dort unter anderem Konzerte und andere Kulturveranstaltungen.
Die jüdische Geschichte im Piemont läßt sich bis ins fünfte Jahrhundert zurückverfolgen. Einen großen Teil der Region regierte das Haus Savoyen. Bereits 1430 wurden Juden von Christen räumlich getrennt, förmliche Ghettos in Turin und anderswo entstanden im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts. In vielen Orten wurden Juden gezwungen, zusätzliche Steuern zu bezahlen, besondere Abzeichen an der Kleidung zu tragen und sich zahlreichen anderen strikten Beschränkungen zu unterwerfen.
Dennoch war das Leben im Ghetto weniger eingeschränkt als in anderen Teilen Italiens. Juden konnten eine Vielfalt von Berufen ausüben, und es gab regelmäßigen Kontakt zwischen Juden und ihren christlichen Nachbarn.
Das Piemont war auch die Wiege des Risorgimento (Wiedererstehung), einer Bewegung, die zur italienischen Unabhängigkeit führte. Viele Juden beteiligten sich aktiv an diesem Kampf und verknüpften ihre Freiheitsbestrebungen mit denen anderer Italiener. Im Jahr 1848 erließ der aus dem Haus Savoyen stammende König von Piemont-Sardinien, Carlo Alberto, das historische Emanzipationsedikt, das den Juden uneingeschränkte Bürgerrechte gewährte. Die Juden Piemonts assimilierten sich und paßten sich der italienischen Gesellschaft in einem solchen Ausmaß an, daß viele von ihnen in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg das faschistische Regime unterstützten.
Die 1938 verabschiedeten antisemitischen Gesetze hatten aber verheerende Auswirkungen auf die Gemeinde, und zahlreiche Juden aus der Gegend schlossen sich den antifaschistischen Partisanen an. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten ungefähr 1.400 Juden im Piemont. Ein Denkmal am Turiner Porta-Nuova-Bahnhof erinnert an die etwa 400 Menschen, die in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet wurden.
Turins jüdische Gemeinde hat eine informative englischsprachige Webseite mit zahlreichen Kontaktaktadressen, Telefonnummern und Ausflugstips:
www.torinoebraica.it/EN/index.php