»Gleiches Recht für alle« ist ein hehrer Grundsatz – so wie, nicht weniger, der Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten«. Die Unschuldsvermutung herrscht im Fall Roman Polanskis schon lange nicht mehr, der 1977 zwar wegen »statutory rape«, korrekt übersetzt »Unzucht mit Minderjährigen«, angeklagt wurde, nicht aber wegen »Vergewaltigung«. Auch die Anklage unterstellt keine Gewaltanwendung. Außerdem besteht Polanski darauf, das Alter seines Opfers sei ihm unbekannt gewesen. Feine Unterschiede spielen bei der hier hysterisierten Öffentlichkeit mit ihrer eingespielten Empörungsmaschine aber längst keine Rolle mehr. Vielleicht kann man sich trotzdem zumindest auf einen dritten Grundsatz verständigen: Gerechtigkeit für Roman Polanski!
Aber was heißt hier Gerechtigkeit? Bestimmt nicht die Entschuldigung seiner Tat mit Hinweis auf Polanskis hohes Alter – er ist inzwischen 76 – oder auf seine traumatische Vergangenheit als Überlebender der Schoa. Sehr wohl aber stellt sich die Frage, ob Polanski überhaupt eine Chance auf Gleichbehandlung hat? Die Ereignisse der letzten Woche sprechen nicht dafür. Das beginnt mit dem heuchlerischen Verhalten der Schweiz, die den Regisseur verhaften ließ, weil dies gerade opportun schien, obwohl führende Juris-ten argumentieren, dass ihn die Behörden nach Schweizer Recht gar nicht ausliefern dürfen.
Noch schwerer wiegt: Hat Polanski in den USA überhaupt die Chance auf einen fairen Prozess? Längst ist der Regisseur dort zum Symbol jener liberalen Gegenkultur geworden, die im Zentrum einer Hexenjagd rechtskonservativer und christlich-fundamentalistischer Kreise steht. Der derzei- tige Umgang mit Polanski ist nur ein besonders deutlicher Einzelfall in einem allgemeinen antiliberalen Rollback.
Abgesehen von alldem: Das Opfer Sa-mantha Geimer hat Polanski längst verziehen und wünscht keinen Strafprozess. Vielleicht könnte zumindest dies all jene unbeteiligten Beobachter, die sich jetzt stellvertretend empören, zu etwas mehr Demut bewegen. Rüdiger Suchsland
Roman Polanski hat 1977 einer damals 13-Jährigen Alkohol und ein Medikament eingeflößt, Oben-ohne-Fotos von ihr gemacht und sie dann mehrfach sexuell missbraucht. Das sind Fakten, die auch der Regisseur selbst nicht bestreitet. Sexueller Missbrauch, zumal von Minderjährigen, ist kein Kavaliersdelikt. Er zählt zu den schwersten Verbrechen, die das westliche Recht kennt.
Das muss hier deshalb so ausdrücklich betont werden, weil die öffentliche Debatte im Fall Polanski sich vor allem an Nebenaspekten des Verfahrens entzündet hat, wie den Umständen der Festnahme oder dem Jahrzehnte zurückliegenden Tatzeitpunkt. Ins Feld geführt wurden auch Polanskis Alter, seine künstlerischen Verdienste – sowie die Schoa. Der polnische Regisseur Krzysztof Zanussi argumentierte für seinen Kollegen mit dessen Lebensgeschichte: Als Neunjähriger war der kleine Roman Polanski aus dem Krakauer Ghetto geflohen und überlebte versteckt, während seine Familie in Auschwitz ermordet wurde. Polanski sei, so Zanussi, bis heute »dieser kleine, vor Angst bebende Junge« geblieben.
Zanussis aus, wie er sagte, »christlicher Nächstenliebe« geschöpftes Argument mag gut gemeint sein. Ihm zu folgen aber wäre fatal. Es war, darauf hat Hannah Arendt hingewiesen, die Essenz des nazistischen Antisemitismus, seine Opfer außerhalb allen Rechts zu stellen. Die Schoa als mildernden Umstand für Straftäter zu instrumentalisieren, wäre nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, es hieße auch in letzter Konsequenz, die Logik der Nazis zu verewigen. Seit 1945 sind Juden, wenigstens in der westlichen Welt, wieder in den Status als gleichberechtigte Rechtssubjekte eingesetzt. Sie stehen unter dem Schutz des Gesetzes. Brechen sie es, müssen sie sich, wie andere Bürger auch, dafür vor einem ordentlichen Gericht verantworten. Sonderregelungen für Juden gibt es glück-licherweise keine mehr – auch nicht zu ihren Gunsten. Roman Polanski war in seiner Kindheit rechtlos. Heute hat er das Recht auf seinen Prozess – und die Pflicht, sich ihm zu stellen. Michael Wuliger