Viele Schoazeitzeugen quält die Gewissensnot, überlebt zu haben, während ihre Eltern und Geschwister ermordet wurden. Mit einem solchen Schuldgefühl ist auch Fred 1990 nach Oswiecim gefahren. Er »musste den Ort sehen, riechen, hören«. Er »musste gehen, wo sie gegangen waren«. Auf diese Weise, so hoffte er, werde er die Schuld los, die ihn so belastete, weil er nicht, wie seine Mutter und sein Vater, in Auschwitz umgekommen war. Seinen Bruder nahm er mit.
Manfred Mayer, der sich später Frederick oder Fred Raymes nannte, und sein drei Jahre jüngerer Bruder Heinz gehen in dem Buch Aus Hoffenheim deportiert ihrem Leben noch einmal nach. Wege und Daten lassen sich gut zurückverfolgen, Orte wiederfinden, doch die kindliche Gefühlswelt ist kaum erinnerlich. Ein Film dokumentierte 2005 die Suche der Brüder nach Spuren, verfolgte ihre Wege. Auch darüber berichtet das Buch, lässt die beiden alten Männer reden, wie sie sich bei den Filmaufnahmen fühlten. Es ist das interessanteste und letzte Kapitel einer Sammlung aus Dialogen, Fotos, Briefen, Dokumenten, dem die Mühe des Ordnens noch anzumerken ist. Lehrbuchpassagen aus dem Mund der Brüder blieben, ein Vorwort zum Vorwort und was den Charme eines kleinen Regionalverlags sonst noch ausmacht. Die Schoa fand im kleinsten Dorf statt, auf diese Weise findet auch die Erinnerung an das Grauen ins kleinste Dorf zurück.
Im badischen Hoffenheim, 25 Kilometer von Heidelberg entfernt, bestand 1930 die jüdische Gemeinde aus 40 Personen. In der Nähe des Ortszentrums stand die Synagoge, in der angrenzenden Wohnung lebten Manfred und Heinz Mayer mit ihren Eltern. Der Vater sang hier als »Teilzeitkantor«, bis das Gotteshaus am 10. November 1938 zerstört wurde. Am 22. Oktober 1940 werden »alle Juden aus Hoffenheim deportiert«. Die Familie kommt nach Südfrankreich ins Gefangenenlager Gurs. Ein jüdisches Kinderhilfswerk schafft die beiden Jungen von 9 und 12 Jahren hinaus in verschiedene Waisenhäuser – sie verlieren sich aus den Augen. Die Eltern bleiben zurück, schreiben in Briefen mit praktischen Tipps und Sätzen verzweifelter Hoffnung gegen Monotonie, Trostlosigkeit, Angst und Sorge an, bis sie nach Auschwitz deportiert werden.
Manfred wird in den Vereinigten Staaten zu Fred und Heinz in Israel zu Menachem. Sie gründen Familien und machen Karriere. Jahre später wagen sie sich wieder nach Hoffenheim, die Offiziellen bemühen sich um sie und warten sehr auf eine versöhnende Geste. Gefühle flackern bei den Zurückgekehrten jedoch nur dann auf, wenn sich jemand findet, der von der gemeinsamen Kindheit erzählt oder die Mutter beschreibt. Eine echte Beziehung zum Geburtsort Hoffenheim gibt es nicht mehr. Gleichzeitig vergessen und sich erinnern zu wollen – wie soll das gehen? Die Enttäuschung über die Nachbarn, über alle, die einfach zugesehen haben, ist ungebrochen und übermächtig. Versöhnung gibt es nicht, höchstens Differenzierung. So trifft man sich, geht dann wieder und widmet das Buch, das der »Heimatverein Hoffenheim« herausgegeben hat, den »Kindern und Enkeln zum Gedenken an die Großmutter und den Großvater, die sie nie kennengelernt haben«. Katrin Diehl
frederick raymes, menachem mayer: aus hoffenheim deportiert
verlag regionalkultur, Heidelberg 2008, 208 S. mit 50 Abb., 16,90 €