von Katharina Lötzsch
»Adolf Zimmermann« steht, eingraviert in eine Metallplakette, auf Platz 17 in der ersten Bank der Hermannstädter Synagoge. Das Schild ist ins dunkle Holz der engen Bank geschraubt. Daneben, auf Platz 19, hat früher Eduard Ellasz gesessen, eins weiter auf Platz 21 Lukacs Aladar. 1898 hatte der Architekt Ferenc Szalay das neugotische Gotteshaus in der damaligen Salzgasse errichtet, 200 Meter entfernt vom heutigen Bahnhof. Arkadenförmig umläuft die Galerie für die Frauen den Gebetsraum, die Blüten der Kassettendecke ziehen den Blick des Betrachters himmelwärts. »In den 30er Jahren war die Synagoge immer voll«, erzählt Eva Moscicki. Damals lebten mehr als 1.300 Juden in Sibiu. Eva Moscicki war eine junge Frau, sie ging zum Religionsunterricht in die jüdische Elementarschule, gleich hinter der Synagoge. Heute erinnert nur eine Menora im dottergelben Türrahmen an die Schule. Eva Moscicki ist 87 Jahre alt, die Älteste der Gemeinde, und am Schabbat bleibt die Synagoge geschlossen. »Das Haus ist zu groß für so wenige Menschen«, sagt Raveca Deutsch, die Sekretärin der Gemeinde. Nur 41 Mitglieder zählt die Gemeinde, weswegen sie eine rabbinische Sondererlaubnis hat, das Pergament der Tora bereits dann aufzurollen, wenn sechs Männer zum Gebet erscheinen.
Raveca Deutsch schließt eine Seitentür auf und schaltet ein halbes Dutzend Glühlampen an. Die einstige Pracht schläft unter einer Schicht Staub. Das Weiß des Vorhangs vor dem Toraschrank ist ein Grau. Die Gemeindesekretärin schiebt ihn beiseite: Die Lade ist leer. Im Jahr 5767 des jüdischen Kalenders stehen die vier Torarollen mit ihren Samtmänteln in einem Schrank im Gemeindehaus hinter der Synagoge, einst Heim des Rabbiners. Der letzte Rabbiner verließ Sibiu vor mehr als einem halben Jahrhundert Richtung Amerika. »Romeo Krauss hieß er«, erinnert sich Eva Mo- scicki mit einem Lächeln, »ein schöner, junger Mann, sportlich, er spielte oft Fußball.«
Besonders groß war die jüdische Gemeinde in Sibiu, wie Hermannstadt auf Rumänisch heißt, nie. Zwar tauchen in den Zollregistern und Steuerbüchern von 1685 bereits jüdische Namen auf, aber erst spät, Mitte des 19. Jahrhunderts dürfen sich Juden innerhalb der Stadtmauer ansiedeln. 1841 schreibt die Lokalzeitung Transsilvania: »Die Anwesenheit der Juden ist schädlich, sie destillieren Branntwein, handeln mit alten Kleidern und sind Zinswucherer.« 1869 registriert die Volkszählung für Sibiu 168 Juden. Ein Weißbäcker und begabter Amateurzeichner dokumentiert die ersten Spuren aus dieser Zeit, zufällig. Johann Böbel malt seine Heimatstadt in ein Album, auf die Rückseiten der Bilder zeichnet er Pläne der Stadtviertel. Weit hinten im Büchlein notiert er: »Seit den 50er Jahren ... ist in der Elisabethgasse im Hause Nro. 32 ... im Hof, in einem sehr alten, ziemlich großen Gebäude auch ein jüdischer Tempel hergerichtet worden und die jüdische Gemeinde ist schon zahlreich.«
Die Elisabethgasse ist heute die Straße des 9. Mai, gesäumt von bunt getünchten Fachwerkhäusern. Nummer 32 strahlt in Quietschrosa, ein Malerbetrieb ist im Erdgeschoss eingezogen. Nichts erinnert mehr an das jüdische Gebetshaus. Böbels Karte wird in der Grafiksammlung der Brukenthalbibliothek verwahrt.
Wer heute Spuren jüdischen kulturellen Lebens in Sibiu, der europäischen Kulturhauptstadt 2007, finden will, muss zum Friedhof am Stadtrand fahren. Ganz hinten rechts liegen, abgezirkelt vom orthodoxen, protestantischen und katholischen Teil, die jüdischen Gräber. Zwölf Reihen. In Reihe 3 J steht der efeuumrankte Grabstein von Henry Selbing. Selbing, als Henrik Schlesinger am 6. August 1912 in Sibiu geboren, war Schüler der Klavier-Meisterklasse bei Paul Wittgenstein am Wiener Konservatorium. Die beiden verbanden Musik und Schicksal: Wie Wittgenstein konnte auch Selbing nur mit der linken Hand spielen – die rechte wurde ihm mit 17 Jahren nach einem Straßenbahnunfall in Temeswar amputiert. Selbing leitete das Wiener Opernballorchester, ehe er 1940 vor den Nazis zurück in seine Heimat floh und nach dem Krieg in Sibiu die staatliche Philharmonie gründete. Er dirigierte sie bis zu seiner Pensionierung. Das Haus der Philharmonie wird gerade herausgeputzt für Sibius Kulturhauptstadtprogramm.
Einige Reihen neben dem Musiker wirft die Grabplatte der Malerin Vera Marcu in der tief stehenden Sonne einen langen Schatten, beinahe wie auf ihren spät-expressionistischen Bildern. Marcu malte gern Porträts, Kindergesichter in Aquarell, stellte in Kopenhagen, Berlin, München, Mailand aus. »Vera Marcu war für die Kunstszene in Sibiu sehr wichtig, das blieb auch nach ihrem Tod so«, sagt Liviana Dan. Die Kuratorin des Brukenthalmuseums – das älteste Museum Rumäniens überhaupt – hat ein gutes Dutzend Marcu-Bilder im Depot.
Und noch ein Grab sticht hervor, die Inschrift: »Isac Leopold (Bubi), 1924-194?, deportat.« Dabei hatte Eva Moscicki zuvor leise gesagt: »Nein, deportiert wurde aus Sibiu niemand, jede Familie hat viel Geld gegeben. Damit es gut ausging.« Die jüdischen Männer mussten ins Arbeitslager, wurden zum Bau der Nationalstraße abgezogen, schlugen einen Durchbruch in den Fels des Fagarasgebirges. Nach dem Krieg gingen die meisten Juden aus Sibiu nach Israel. Bis zu 50 Pässe für Ausreisewillige kamen pro Woche. Die Volkszählung 1942 hatte 1.350 Juden in der Stadt registriert. 1956 waren es 762, zehn Jahre später nur 211. Heute sind es 41, die meisten von ihnen ältere Menschen. An die Stelle der lebendigen jüdischen Gemeinde Sibius von einst, sagt Frau Moscicki, ist »eine große Leere« getreten.