von Matthias Reichelt
Dies ist ein Buch, das jenseits aller literarischen Realitäts- und Qualitätsdebatten ein Höchstmaß an Authentizität besitzt und dessen Lektüre quälend schmerzhaft ist. Es sind Briefe von Schoa-Opfern, die angesichts ihrer bevorstehenden Ermordung letzte Worte zu Papier bringen. Sie zu lesen, verlangt einem viel ab: Die Grausamkeit, die offen oder zwischen den Zeilen beschrieben wird, ist kaum auszuhalten. Nur ein wissenschaftlicher Umgang, Archivierung und Kategorisierung nach Intention, Charakter und Inhalt, kann eine distanzierende Schutzschicht bieten, ein Kokon sein, mit dem man sich bei der Lektüre umgibt.
Zwi Bacharach, Direktor des Leo Baeck- Instituts Jerusalem und renommierter Holocaustforscher, hat aus 800 in verschiedenen Archiven lagernden Briefen und Notizen eine Auswahl von mehr als 130 Dokumenten ediert. Die meisten der Briefe informieren ihre Adressaten über die Situation in Lager oder Ghetto und über das vorausssichtliche Schicksal der Verfasser. Andere Schreiben sind als Testamente gedacht, enthalten angesichts der bevorstehenden Ermordung Aufgaben und Anweisungen für die Zurückbleibenden: Ermah- nungen, ein Leben im rechten Glauben zu führen, oder Beschwörungen, sich um die zurückgelassenen Kinder zu kümmern sowie die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft für die Hinterbliebenen in Eretz Israel.
Viele der Briefe wurden verfaßt, als die angekündigte Deportation Anlaß gab, Bilanz zu ziehen. In einigen Fällen kam es durch ständige Verschiebungen des Deportationstermins zu immer neuen Ergänzungen, die den Schreiben Tagebuchcharakter geben. Andere Schreiben sind strenggenommen keine Briefe, sondern kurze Mitteilungen, die von ihren Verfassern irghendwo versteckt oder aus den Deportations -zügen geworfen wurden. Sie richten sich an anonyme Finder mit der Bitte, die Hinterbliebenen zu informieren oder einfach nur von der Existenz der in den Tod Deportierten Kenntnis zu nehmen. In einigen makabren Fällen weisen die Autoren noch das zu zahlende Porto aus, um dem Finder den Versand an die Zieladresse zu erleichtern.
Daneben gab es auch offizielle Kanäle, die Ghetto- und Lager-Post. Briefe oder Karten, die hier verschickt wurden, durchliefen die Zensur der SS. Der Inhalt mußte deshalb codiert werden: »Die Frau Halal ist hier sehr fleißig. Zu Hause mochte ich nicht, wenn sie in meinem Haus war, aber hier bin ich mit ihr die ganze Zeit zusammen und so habe ich mich mit ihr angefreundet.« Halal heißt auf Hebräisch nichts anderes als Tod.
walter zwi bacharach (hrsg.):
dies sind meine letzten worte – briefe aus der shoah
Wallstein, Göttingen 2006, 336 S., 24,90 €