von Ellen Presser
Wann immer moderne Lebensführung in Gegensatz zu traditionellen jüdischen Normen gerät, wird auf die Halacha verwiesen. Schließlich stünde es so geschrieben, wird argumentiert. Wer glaubt, das bedeute das Ende der Diskussion, hat zu kurz gedacht. Eindrucksvollen Beleg dafür bot ein Vortrag des Historikers David Berger, zu dem das Jüdische Lehrhaus ins Gemeindezentrum am Jakobsplatz eingeladen hatte. Man könnte Berger, der zur Zeit noch am Brooklyn College und an der City Unversity in New York Geschichte lehrt und ab September eine Professur für Jüdische Geschichte an der Yeshiva University übernehmen wird, aber auch für einen Religionswissenschaftler halten. Denn er beschäftigt sich seit Langem mit der jüdischen Geschichte im Mittelalter im Vergleich zu der Erfolgsgeschichte des expandierenden Christentums in jener Epoche.
Berger, der sich außerdem als Rabbiner modern-orthodoxer Richtung einen Namen machte, schaffte es in seinem Vortrag fürs jüdische Lehrhaus sehr überzeugend in einem historischen Exkurs »die Antwort der Halacha in einer sich verändernden Gesellschaft« darzustellen. Bei seinen »Reflexionen über die Dynamik jüdischen Rechts« ging Berger darauf ein, wie dieses als uneinnehmbare Festung gegen die Schläge und Pfeile externer Vorgänge und sich ändernder Wertvorstellungen wahrgenommen wird. Dabei werde dem Judentum ein gnädiges Verhalten gegenüber dem eigenen Glauben, wie es etwa die christlichen Streiter tun, stets abgesprochen. Wenn man vom göttlichen Ursprung jüdischer Gesetzgebung ausgehe, so Berger, könne sie nicht verändert werden. Und doch kann kein gesetzliches System überleben, wenn nicht Veränderungen in der Umwelt berücksichtigt werden. Es gehe also um eine vernünftige Neudeutung, meint Berger.
Der Talmudgelehrte Chaim Soloveitchik (1853-1918) habe etwa festgestellt, dass das Selbstverständnis einer Gemeinde im Mittelalter wesentlicher Faktor dafür war, ob Gebräuchliches außer Kraft gesetzt werden konnte oder nicht. Immer wieder stellte sich die Frage, wenn Juden in der Gesellschaft als Außenseiter wahrgenommen wurden, wie sehr sie dies mit extremer Angepasstheit oder Selbstbewusstsein beantworteten.
Kaum ein Beispiel ist hierfür augenfälliger als die Frage der Kippa für den Mann seit der jüdischen Emanzipation. Hat das Tragen dieser jüdischen Kopfbedeckung in nichtreligiösem Kontext – vor allem im Berufsleben – eine Wirkung, erzeugt es Reaktionen, die eher vermieden werden sollten? Gerade die Frage der Kopfbedeckung ist ein Beispiel dafür, wie gegenwärtig manche scheinbar alte Debatte heute ist. Sie hat inzwischen längst auch die multikulturelle deutsche Gesellschaft erreicht.