von Johannes Boie
Erwachsene Männer sitzen weinend vor ihrem Computer, Eltern stiften ihre Kinder an, Namen auf Antragsformularen zu fälschen: Die Verlosung der streng limitierten WM-Tickets ist in Deutschland zur Lotterie der Emotionen geworden. Und für die meisten Hoffenden gab es bis jetzt kein Happy- End – die Tickets sind streng rationiert.
Welch unverhofftes Glück für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin: Der paritätische Verband »Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin«, stellte der Gemeinde 105 Tickets für unterschiedliche Spiele zur Verfügung. Wie man zu der Ehre gekommen ist, kann sich allerdings nicht mal Gemeindechef Gideon Joffe erklären: »Irgendwie hat die LIGA verschiedenen Kirchen und sozialen Einrichtungen Tickets übermittelt – da gehören wir wohl auch irgendwie dazu«, mutmaßt er. Joffe ist schwer im Streß. Eine ältere Frau im Pelz hüpft ungeduldig hinter ihm auf und ab: »Ich hab hier zwei Tickets, die will ich wieder umtauschen – was nun?«
Ja – was nun? Ratlose Gesichter hat es schon rund eine Stunde vorher gegeben, beim Beginn der Veranstaltung. »Alles etwas konfus hier«, seufzt Gemeindemitglied Diana Gronert, 28, in Anbetracht des Zettels vor ihr. Den müssen alle ausfüllen, die an der Verlosung teilnehmen möchten. Diana Gronert hat freilich noch einiges vor sich: ein Auf und Ab von Emotionen, Lautstärke, und Stimmen der jungen Mädchen am rechten Rand des Saals, die lauthals Fußball-Parolen singen.
Insgesamt können die Gemeindemitglieder zwölf verschiedene Möglichkeiten nutzen, ihre Lose in die Trommel zu werfen. Neben eher unspektakulären Begegnungen wie zum Beispiel »Ukraine – Tunesien« (60 Euro pro Karte) sind auch echte Highlights im Programm: Karten für das Viertelfinale Ende Juni (85 Euro bis 185 Euro pro Karte). Trotzdem ist der große Saal am vergangenen Sonntag nicht mal zu einem Fünftel gefüllt. Nur etwa 60 Gemeindemitglieder sind erschienen – und manch einer geht sogar wieder, ohne seinen Loszettel ausgefüllt zu haben. »Pfff, ich wollte ’ne Karte fürs Finale«, stöhnt Nico Stern, 29, bevor er gelangweilt den Raum verläßt. Doch je weniger an der Verlosung teilnehmen, desto höher die Chancen für alle, die bleiben.
Bei 105 Tickets müßte eigentlich jeder der Anwesenden mit mindestens zwei Karten bedacht werden, denn nur wer persönlich anwesend ist, darf einen Loszettel ausfüllen. Doch irgendwie scheint es im Ge- meindehaus Geister zu geben. Zum Beispiel Moshe. »Moshe hat eine Karte gewonnen«, ruft die stets resolute Glücksfee Michal Gelerman durch den Raum, doch Moshe meldet sich nicht. Er hat zwar angeblich einen Zettel ausgefüllt, ist aber offensichtlich nicht da. »Moshe ist mein Schwiegervater, der kommt gleich«, ruft eine junge Frau beschwörend. »Das zählt nicht«, ist sich Glücksfee Gelerman sicher und wirft Moshes Zettel auf den Boden. Auch Familie Yantian muß nicht lange warten, bis das Glück zuschlägt. Micha, 10, bekommt sein Ticket nur kurz bevor Papa Nicholas ebenfalls Erfolg hat. Vor Freude nimmt der Junge seine Mutter in den Arm. Die Eltern Yantian überschlagen die Finanzen: »Bei wieviel Euro sind wir jetzt?« – »150.« – »Hast du noch Geld?« Bei einer zweiten Verlosungsrunde füllen sie wieder ihre Loszettel aus. Und dabei ist sich Sohn Micha doch sicher, daß die WM sowieso ein Trauerspiel wird: »Ich bin lieber mal für England, Deutschland hat keine Chance.« Damit der Zehnjährige den Untergang nicht alleine anschauen muß, handeln seine Eltern bereits mit anderen Kartengewinnern: Wer tauscht Ecuador – Deutschland gegen Ukraine – Tunesien?
Auch Shelly Solovei, 20, will nicht alleine ins Stadion und deshalb noch schnell ihre Tickets tauschen. Sie ruft durch den ganzen Raum ihr Angebot. »Eigentlich mache ich hier nur für meinen Bruder mit, aber jetzt haben wir beide so viele Karten zur Verfügung, da gehe ich vielleicht doch auch mit ins Stadion«, lacht sie. Tauschen, weiterverkaufen, handeln, das sind die Hauptbeschäftigungen der meisten Gewinner, und im Lauf des nachmittags gewinnt fast jeder einmal. »Tja«, sagt Gemeindechef Joffe später, »das Tauschen wird ein Problem, Kinder können ja schlecht alleine ins Stadion. Andererseits kann ich nicht garantieren, daß man die Namen der Gewinner jetzt noch nachträglich in den Tabellen ändern kann.«
Doch solche Überlegungen mag niemand hören – langsam bahnt sich ohnehin das Chaos seinen Weg in den Gemeindesaal. Längst steht das Gros der Versammelten auf der Bühne und umringt Glücksfee Gelerman. Auch die routinierte Moderatorin verliert zwischenzeitlich den Überblick: »Hatte ich den Zettel schon? Ach, egal ... Jetzt geht endlich mal alle von der Bühne!«
Nach einer Stunde ist alles vorbei. Kaum einer, der jetzt noch kein Ticket hat. Daß Tickets verlost werden, ist ohnehin ein Grund zur Freude. In großen Firmen ist es ebenso üblich wie in der Politik, Kartenkontigente stillschweigend an Freunde und Mandatsträger durchzureichen. Doch nach den vielen Negativschlagzeilen will sich die Gemeinde transparent und mitgliederorientiert zeigen.
Und zum Schluß hat Gemeindechef Joffe noch eine ganz besondere Überraschung: Das einzig verfügbare Ticket fürs Finale bekommt Gemeindemitglied Michail R. geschenkt. Der junge Mann hat seine Mutter verloren und kümmert sich seit Jahren um seine kranke Großmutter.