»Bleib mir gesund Krakau! Bleib du mir gesund.
Es wartet der Wagen angespannt schon vor dem Haus,
es treibt der wilde Feind, wie man treibt einen Hund,
mit Grausamkeit mich aus dir heraus.« (1936)
Von Mordechaj Gebirtig. Der Dichter und Liedermacher wurde im Frühjahr 1942 im Krakauer Ghetto auf offener Straße erschossen.
Von Martin Gerner
Joachim Russek trägt einen langen grauen Bart. Würdevoll. »Manchmal werde ich mit dem Rabbiner von Krakau verwechselt«, sagt er. Russek ist Direktor der Stiftung Judaica, eines »für alle offenstehenden Zentrums für jüdische Kultur. Nicht eines jüdischen Kulturzentrums«, wie er betont. Das Haus liegt in der berühmten Meiselstraße 17 von Kazimierz, dem Viertel, in dem einst das Leben der orthodoxen Krakauer Juden pulsierte. »Sind Sie Jude?« werde ich mindestens fünfmal am Tag gefragt«, sagt Russek. »Nein. Nobody is perfect«, pflegt er gerne zu antworten, so als sei ihm, dem überzeugten Krakauer und Mittler zwischen den Kulturen, der jüdische Witz bei der jahrelangen Arbeit mit in den Schoß gefallen.
»Eigentlich ist die Stiftung eine Bürgerinitiative«, erklärt der gelernte Völkerrechtler und blickt damit auf 13 Jahre, mehr als 2.000 Veranstaltungen und etwa 125.000 Besucher zurück. »Für uns, die wir Polen, aber keine Juden sind, ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur ein Test für unsere bürgerliche und menschliche Solidarität.«
Russek redet wie gedruckt über die dramatische Geschichte jüdischen Lebens in Krakau. Von den Anfängen unter König Kasimir im 14., über die Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert bis zum fast vollkommenen Verschwinden im Zweiten Weltkrieg. Für Juden aus dem Ausland ist das heutige Polen ein einziger Friedhof, hört man immer wieder. Und doch kündet Krakau, anders als Breslau oder Warschau, wegen seiner langen Verwurzelung und erhaltener Bauten seit geraumer Zeit von einer Wiederbelebung der Vergangenheit.
Bezeichnend ist, durch wen sie passiert. »Lange Zeit wußte ich mehr über amerikanische Indianer als über polnische Juden. Das war die Regel. Bei mir und vielen anderen.« Zwei Namen fallen. Der von Czeslaw Jakubowicz, dem Präsidenten der jüdischen Kultusgemeinde in Krakau in den achtziger und neunziger Jahren, und der von Rafael Scharf, einem Krakauer Intellektuellen, der 1938 nach London emigrierte. »Die beiden vermittelten mir eine Grundvorstellung von jüdischem Leben«, sagt Russek. Dann kam 1986, noch im kommunistischen Polen, die Gründung eines Forschungszentrums für jüdische Kultur an der Universität Krakau. »Eine kleine Sensation, exotisch im positiven Sinn.« Und Spätfolge des Experiments unter der Regierung Gierek und ihrem Ansatz eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«.
Ebenfalls nicht jüdischer Abstammung, aber auch in den fünfziger Jahren geboren sind Janusz Makuch und Krzysztof Gierat. 1988 riefen sie das Festival der jüdischen Kultur ins Leben. Seitdem hat sich Kazimierz stetig vom Geruch eines schäbigen Viertels befreit. Heute ist das Festival fester Bestandteil des Kulturkalenders. Die Abschlußkonzerte auf der Szeroka, der Breiten Straße – eigentlich ein langgestreckter Platz und einst mit Mikwe, Friedhof und vier Synagogen Mittelpunkt jüdischen Lebens –, werden begleitet vom Applaus der Anwohner. Eines der Gebetshäuser an der Szeroka ist die Remuh-Synagoge, benannt nach Rabbi Mosche ben Israel Isserles, dem Remuh, der hier lehrte und als einer der großen Propheten begraben ist. Fast alle Gräber des angrenzenden und bis 1533 zurückreichenden Friedhofs wurden von den Nationalsozialisten geschändet. »Ein Wunder, daß sie überhaupt noch da sind«, sagt ein älterer Mann, der zur Friedhofsführung lädt: Nach dem plötzlichen Tod eines deutschen Soldaten am Grab von Mosche Isserles interpretierten die Deutschen dies als Fluch. Sie verzichteten auf die totale Zerstörung und machten einen Teil des Friedhofs zur Müllhalde. Glück im Unglück war das.«
Rund 120 Bewohner von Krakau sind Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde. Noch einmal so viele ohne spezielle Bindung zu Synagoge und Kult. Das Einzugsgebiet der jüdischen Gemeinde von Krakau reicht im Osten bis zur ukrainischen Grenze.
Jüngere Menschen sind fasziniert von der untergegangenen Kultur ihrer Stadt. Wie Marcin von den »Klezzmates«. Das Quartett spielt seit vergangenem Jahr eine Mischung aus Jazz, Klesmer und orientalischen Fragmenten. »Klesmer-Musik ist längst nicht nur jüdisch, sondern ein Mix polnischer und russischer Einflüsse, von Zigeuner- und Balkan-Klängen«, sagt Marcin. Die Gruppe »Kroke«, jiddisch für Krakau, war eine der ersten, die außerhalb von Krakau auf Tour ging. Zwei der Musiker erfuhren erst als Erwachsene von ihren jüdischen Ursprüngen. Ihre Eltern hatten es ihnen verheimlicht, aus Sorge vor antisemitischen Reaktionen. Weitgehende Assimilation und Enkelgenerationen, die zurückstreben zu ihren Wurzeln – beides findet man in Krakau.
Am Übergang zur Altstadt klebt auf Kopfhöhe ein Plakat, das Adolf Hitler zeigt. Daneben das Bild von Wladimir Putin. »Hitler jest na Kremlu« lautet die Unterzeile, »Hitler regiert im Kreml.« Krakau war im Sozialismus und unter den Nationalsozialisten für eine kritische Grundhaltung seiner Bürger bekannt, heißt es im Dumont-Kunstführer.
Paul, der spätabends ein Bier im »Alchemia«, einem Szene-Lokal in Kazimierz, trinkt, ist nicht unbedingt repräsentativ, hat aber eine dezidierte Meinung. »Nach 1994 ist viel jüdisches Geld geflossen. Nachdem Schindlers Liste gedreht wurde, investierten hier amerikanische Juden.« Angesichts noch vieler renovierungsbedürftiger Häuser wohl eher ein Segen. Allerdings haben die Folgen des Filmerfolgs auch Kritiker auf den Plan gerufen. Die plötzliche Popularität des Themas Holocaust und der florierende Spielberg-Tourismus behagen nicht allen.
Heute buchen viele Deutsche einen Wochenend-Trip für 19,90 Euro nach Krakau. Auf der Tour nehmen sie das eine Autostunde entfernte Auschwitz gleich mit. Spätestens hier gerät die Reise zum touristischen Trauerritual. Eindrücke zwischen heiß und kalt, die ein Kurzreisender unmöglich adäquat verarbeiten kann. Angelika Eder, Leiterin des Krakauer Goethe-Instituts, hat es da schon besser. Die Ko- operation mit Trägern jüdischer Kultur gehört zu ihren Aufgaben, aber man müsse die Verhältnisse sehen. »Deutsche, auch gebildete, verwechseln den Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 gerne mit dem polnischen Aufstand von 1944 dort. Deutsche sind überrascht in Auschwitz, daß die polnische Elite zu den ersten Opfern zählte. Das regt Polen unwahrscheinlich auf«, sagt Eder, die das nicht als Relativierung jüdischen Leids mißverstanden wissen möchte. Es sei vielmehr ein Hinweis auf deutsche Defizite.
Goethe und Göth. Deutscher Glanz und Horror scheinen in Krakau nur durch ein einziges »e« getrennt. Auf dem jenseits von Kazimierz gelegenen Weichsel-Ufer, im Stadtteil Podgórze, zeugt wenig von den Umrissen des einstigen Ghettos und dem Arbeitslager Plaszow, in dem der Lagerkommandant Amon Göth Panik und Tod verbreitete. »Einige Lagerinsassen leben noch heute in Krakau«, sagt Professor Alexander Skotnicki. »Zum Beispiel Stella Miller, die ›polnische Anne Frank‹. Ich habe sie gerade operiert«, berichtet der praktizierende Onkologe. In der Hohen Synagoge in Kazimierz, heute ein Museum, hat er eine Foto-Ausstellung über jüdisches Leben erstellt. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Plaszow am Rande von Krakau möchte er ein Museum errichten. »Dort steht nur ein einziges Denkmal, und das ist 40 Jahre alt. Eine Schande für die polnischen Behörden.« Ein kleines Reststück der Ghetto-Mauer in Podgorze muß man ebenfalls suchen.
Kann man in Kazimierz von einer Re-Judaisierung ohne Juden reden? Der Tourist stößt sich wenig daran, der Intellekt schon. Ein Tourismus der Sehnsucht füllt zwar die Kassen und Hotels, löst aber das Grundproblem nicht: »Es besteht die Gefahr«, sagt Russek, »daß Kazimierz abgleitet in die Situation eines polnischen Disneylands. Die vielen Klesmer-Gruppen und die Restaurants. Bestellen Sie mal Gefilte Fisch, dann bekommen Sie das Gefilte, aber ohne Fisch.«
Im Jahr 2000 war Krakau europäische Kulturhauptstadt. Heute prägen Studenten das Bild. In den Kneipen, in denen Englisch gesprochen wird, meint man, das »Haus Europa« sei bereits zu Hause, während einem draußen noch morbider Charme à la DDR entgegenlugt. »Die jüdische Kultur von Krakau und ihr Überleben werden nicht als europäischer Kulturschatz wahrgenommen«, kritisiert der Direktor der Stiftung Judaica. »Wäre das der Fall, trügen alle dafür Verantwortung. Es geht um ein paar Euro. Aber so wie die Dinge laufen, bin ich pessimistisch«, sagt Russek. Wenn es zum Beispiel um das finanzielle Überleben des Kulturzentrums geht, stehe er zwei Vorurteilen gegenüber. Das eine besage, daß alle Juden steinreich seien. Das andere kommt von Spendern aus Amerika. Einige machten ein langes Gesicht, sobald sie erfahren, daß er kein Jude ist und trotzdem das jüdische Erbe verwaltet.