von Rabbiner Jonathan Magonet
Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern gehört zu den bekanntesten der hebräischen Bibel. Sie bildet auch die Quelle für Thomas Manns Bearbeitung des Midrasch in seiner Tetralogie »Joseph und seine Brüder«. Die Anziehungskraft dieser Geschichte läßt vermuten, daß hier grundlegende menschliche Erfahrungen berührt und diskutiert werden.
Ganz offensichtlich geht es zunächst darum, daß Kinder um die Liebe ihres Vaters werben. In der Tat prägen die Auseinandersetzungen zwischen Brüdern das Erste Buch Moses: von der Tötung Abels durch Kain, über die Rivalität zwischen Isaak und Ismael bis hin zur Auseinandersetzung zwischen Jakob und Esau. Was indes mit einem Mord begann, endete mit einer Versöhnung zwischen Joseph und seinen Brüdern.
Wir stehen ganz am Anfang dieser Geschichte. Das erste Wort unserer Parascha, von der dieser Abschnitt auch seinen Namen hat, lautet »Wajeschew«. Hier wird die Grundlage für das Drama gelegt, das sich vor unseren Augen entfalten wird. »Jaschaw« bedeutet im Wortsinn: »sitzen«, beschreibt jedoch auch die dauerhafte Niederlassung an einem bestimmten Ort. In der späteren biblischen Zeit werden die Einwohner Jerusalems als »Joschwei Jeruschalaim« bezeichnet.
Den Gegensatz dazu bildet das Verb »gur«. Das Wort bedeutet »besuchen«, sich nur vorübergehend irgendwo aufzuhalten. In der Form »Ger« wird das Wort oft für die Nicht-Israeliten gebraucht, die im Land Israel leben.
Im ersten Satz unseres Abschnitts wird der Gegensatz zwischen beiden Ausdrükken deutlich: »Und Jakob wohnte – »wajeschew« – in dem Land, wo sein Vater sich aufgehalten hatte – »m’gurei awiw« –, im Land Kanaan.«
Seit der Berufung Abrahams war die ganze biblische Geschichte an die Niederlassung im Land gebunden, das seinen Nachfahren gehören sollte. Abraham, Isaak und der junge Jakob waren wiederholt in dieses Gelobte Land gekommen und wieder aus ihm fortgezogen, und nun schien es, daß das alte Versprechen erfüllt werden sollte. Jakob wohnte nun hier und schlug dauerhaft Wurzeln.
Man hätte also erwarten können, daß die Geschichte hier zu Ende ist. Was auch immer Gott für die künftigen Nachfahren Abrahams im Sinn gehabt haben mochte – alles hätte sich nun in dem Land abspielen können, in dem sie wohnten. Wir wissen aber nicht nur um die Prophezeiung an Abraham, sondern auch um eine andere Vorhersage, die Abraham zuteil wurde. Diese Prophezeiung besagte, daß seine Nachkommenschaft eine Zeitlang als »Gerim« (Fremde) leben würde, als vorübergehende Bewohner eines nicht namentlich genannten Landes. Dort sollten sie 400 Jahre lang in Sklaverei verweilen, um schließlich in das Land Kanaan zurückkehren zu dürfen. Wie und aus welchen Gründen es geschehen sollte, erfahren wir hier nicht. Aber beginnend mit diesem Zeitpunkt kam es zu einer Reihe von Vorfällen, die in der Erfüllung dieser Prophezeiung münden sollten.
Diese Ereignisse werden jedoch nicht durch Gottes Eingreifen in das Leben Jakobs und seiner Familie ausgelöst. Vielmehr steht eine schlichte häusliche Angelegenheit am Anfang – die besondere Zuneigung, die Jakob zu einem seiner Söhne empfand und die die Eifersucht der anderen Söhne heraufbeschwor. Wie die Rabbiner betonen: »Eltern sollten niemals ein Kind vor den anderen bevorzugen. Für ein paar Ellen bunten Gewands gerieten die Kinder Israel in die ägyptische Sklaverei.« (Babylonischer Talmud, Schabbat 10b).
Die Rabbiner zogen aus dieser Familiengeschichte noch eine weitere Lehre. Sie lehrten, daß Rachels und Leas Söhne die Söhne Bilhahs und Zilpahs als Kinder von Mägden verspotteten und herabsetzten. Aus diesem Grund gerieten alle Israeliten in die Sklaverei, so daß keiner von uns sich mehr über den anderen erheben konnte.
Im Nachhinein begreifen wir nicht nur den folgerichtigen Ablauf der Ereignisse, sondern auch deren langfristige Folgen. Der Auszug aus der ägyptischen Sklaverei wurde zu einer Gründungsgeschichte der jüdischen Identität, Werte und des jüdischen Schicksals. Die Berufung Abrahams durch Gott in das unbekannte Land zu gehen, stellt eine Herausforderung unserer gesamten Geschichte dar, in der wir uns immer wieder Neuem zu stellen hatten. Wir definieren uns durch die Befreiung aus der Sklaverei und durch den Weg ins Gelobte Land. Das gilt auch für eine andere große Aufgabe: uns für Gerechtigkeit und Freiheit für die ganze Menschheit einzusetzen.
Wäre Joseph nicht gezwungen gewesen, nach Ägypten zu ziehen, und hätte ihm seine Familie wegen der Hungersnot nicht dorthin folgen müssen, dann wäre die Geschichte von Abrahams Berufung vielleicht nur eine Stammeslegende geblieben, die man sich am Lagerfeuer in Kanaan erzählt hätte. Damit sie jedoch eine Bedeutung für die ganze Welt bekommen konnte, mußte Josephs Familie das Land verlassen, das schon fast ihre Heimat geworden war.
Der Unterschied zwischen den Verben »jaschaw« und »gur« definiert genau die beiden Pole der jüdischen Existenz zwischen Heimat und Exil, zwischen einem seßhaften Leben und einem Leben in Wanderschaft. Die Sehnsucht nach dem stabilen Leben und die Wirklichkeit der ununterbrochenen Wanderschaft hat uns eine weitere charakteristische Eigenschaft verliehen: die Fähigkeit, mit Unsicherheit zu leben. Oder genauer die Fähigkeit, in innerer Sicherheit ohne Abhängigkeit von äußeren Gegebenheiten zu leben. Diese besondere jüdische Erfahrung, die wir im Verlauf unserer Geschichte immer wieder gemacht haben, ist heute die Wirklichkeit, mit der immer mehr Menschen zurecht- kommen müssen.
Hier mag ein weiterer Grund dafür liegen, daß die Geschichte Josephs ihre Anziehungskraft bis heute nicht verloren hat. Joseph erhob sich aus der finsteren Grube zu Ehre und Führerschaft in Ägypten. Seine Geschichte ist ein Beweis dafür, daß Mißhandlung, Bitterkeit und Verzweiflung, die er erleiden mußte, weder in Gewalt noch in Selbstzerstörung münden müssen. Wenigstens manchmal können sie durch Glauben und Hoffnung überwunden werden.
Wajeschew: 1. Buch Moses 37,1 bis 40,23