Jedes Jahr lesen wir am Versöhnungstag, dem Jom Kippur, in der Synagoge die dramatische Geschichte des Propheten Jona. Jenes Propheten, der anfangs seiner Mission entfloh, diese jedoch nach einem dreitägigen Aufenthalt im Leibe eines Fisches doch aufzunehmen bereit war und sie dann auch erfolgreich (für ihn fast zu erfolgreich) erfüllte.
Nun ist im Buch Jona zwar von einem biblischen Propheten die Rede, aber eigentlich ist jeder von uns gemeint. Jeder von uns steht in gewissen Lebensphasen vor den existenziellen Problemen des Jona, und das Buch will uns lehren, wie wir diese Lebensfragen lösen sollen.
Gott wendet sich Jona zu mit dem Auftrag, nach Ninwe zu gehen und die Einwohner der Stadt zurechtzuweisen. Doch ist Jona nicht bereit, den Auftrag anzunehmen. Statt nach Ninwe im Osten flieht er – ganz symbolisch – in die entgegengesetzte Richtung, in den fernen Westen.
Statt sich mit Gottes Wort auseinanderzusetzen, entrinnt er nach Tarschisch, der Stadt, von der es heißt, sie habe Gottes Kunde nicht vernommen und nicht gesehen seine Herrlichkeit (Jesaja 66,19). Jona entflieht nicht Gottes Präsenz – er weiß, dass dieser Meer und Festland geschaffen hat (1,9) –, aber er entgeht dem Gespräch mit Gott, entflieht »Mi-lifne Haschem«, dem Vor-Gott-Stehen.
Der Grund von Jonas Flucht ist im ersten Kapitel des Buches ganz nebensächlich – hier ist vielmehr die zentrale Frage, ob der Mensch Gottes Auftrag entfliehen und sich seiner Lebensaufgabe entziehen kann.
Im Weiteren beschreibt das Buch, wie sich Jona immer weiter von seiner Aufgabe zu entfernen sucht und sich in der Problematik der Selbstnegierung verstrickt. Horizontal geht er nach Jaffa, sticht ins Meer und hofft, ins ferne Tarschisch zu gelangen. Vertikal geht er hinunter ins Schiff (das Verb »hinuntergehen« ist Leitmotiv), ins Innere des Unterdecks, in den Schlaf, in die Apathie – er reagiert auf das Schreien der Matrosen und des Kapitäns anfangs gar nicht – und in den Tod. Sehen wir nicht in Jona auch einen Menschen unserer Zeit, der nicht bereit ist, sich Gott, der Gesellschaft und sich selbst zu stellen und alles versucht, um der notwendigen Lebenskonfrontation zu entgehen?
Doch wie kommt Jona wieder zu sich selbst und zu seinem Auftrag zurück? Das Buch schildert diesen Prozess der Einkehr und der Rückkehr sehr anschaulich.
Gebet Im Inneren des Fisches, abgeschlossen von der Welt und mit sich allein, setzt sich Jona mit Gott und sich selbst auseinander. Das Buch erklärt uns, wie dieser Klärungsprozess vor sich geht: durch das Gebet. Beten im Hebräischen heißt »lehitpallel«, vom Stamme »pll«, also richten. Ganz anders als in der deutschen Sprache, wo das Wort »beten« mit dem Wort »bitten« verbunden ist. Das jüdische Beten ist ein sich selbst Richten in der Gegenwart Gottes, ein sich über das eigene Leben Rechenschaft ablegen. Jona geht quasi eine Selbstanalyse durch, in der er sich prüft und richtet.
Um das Besondere dieses in der Bibel vorgeschlagenen Weges zu verstehen, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass es viele Mythen und märchenhafte Geschichten gibt, in denen – ähnlich wie in der Jona-Geschichte – ein Mensch von einem Ungetüm verschlungen wird. Denken wir nur an die Geschichte um Herakles und Hesione oder an das Märchen vom Rotkäppchen.
In diesen beiden – und Hunderten von ähnlichen Geschichten – wird der verschlungene Mensch durch die Anwendung von physischer Kraft, von außen oder innen, gerettet. In der Jona-Geschichte und allen Parallel-Sagen der Bibel wird der »eingefangene« Mensch durch die geistige Kraft des Gebetes, des Gesprächs zwischen Gott und dem Menschen, gerettet. Denken wir nur an Daniel in der Löwengrube oder an die Kinder Israels in den tosenden Gewässern des Schilfmeeres. Auch dort ist es die »Zusammenarbeit« im Gebet zwischen dem Menschen und Gott, die Heilung und Rettung bringt.
Und am Jom Kippur, dem Tag, an dem wir unseren Lebensweg neu überdenken, stehen wir betend vor Gott, um in einem Akt der Selbstprüfung den Weg zu Gott und uns selbst zurückzufinden.
Aufgabe Im Inneren des Fisches übersieht Jona im Dialog mit Gott sein Geschehen. Er erkennt, dass sogar die größten Kräfte der Welt – das Meer und der große Fisch – den Auftrag Gottes erfüllen müssen. Das tosende Meer im ersten, der verschlingende Fisch im zweiten Kapitel tun in jeder Phase der Erzählung genau das, was Gott ihnen befiehlt.
Jona anerkennt nun, dass er wie alle von Gott erschaffenen Kräfte die ihm von Gott zugeteilte Aufgabe erfüllen muss, und er ist deshalb bereit, nach Ninwe zu gehen.
Blieb Jona eigentlich nichts anderes übrig, als gegen seinen ursprünglichen Willen doch seine prophetische Aufgabe zu übernehmen? Musste er nun die göttliche Mission erfüllen? Dies widerspräche ja dem Grundgedanken der freien Wahl, der allen Gebeten des Jom Kippur zugrunde liegt!
Die Tora gibt darauf eine klare Antwort. »Leben und Tod habe ich Dir gegeben, Segen und Fluch. So wähle das Leben, auf dass Du und Dein Same leben« (5. Buch Moses 30,19). Der Mensch hat die Wahl – in gewissem Sinne eine Scheinwahl – zwischen der Annahme des göttlichen Wortes, welches Leben und Segen bedeutet, und dessen Zurückweisung, was Tod und Fluch mit sich bringt.
Auf das Buch Jona übertragen, würde dies bedeuten: Nimm Dich an, Jona, erfülle den Deinem Wesen entsprechenden Lebensweg, und Du wirst segensreich wirken und ein erfülltes Leben führen. Falls Du mit Dir und Deinem Lebensrahmen haderst, wirst Du Dich durch ständige Frus-trationen und Seelenprobleme immer mehr von der Vitalität des Lebens entfernen.
Wahrheit Ist dies nicht im tiefsten Sinne eine allgemein anerkannte, psychologische Wahrheit? Nur jene Menschen, die – oft nach langem Hadern mit sich selbst – zu sich finden und ihre eigenen, von Gott gegebenen Kräfte entwickeln und realisieren, können ein erfülltes Leben finden und so ihre Lebensmission erfüllen.
In überzeugender Weise hat Rabbi Suscha diesen Gedanken in chassidischer Art formuliert: Wenn ich nach 120 Jahren in den Himmel komme, wird mich der göttliche Richter nicht fragen: Warum warst Du nicht wie Abraham, unser Vater, warum lebtest Du nicht wie unser Lehrer Moses? Sondern er wird mir die Frage stellen: Warum warst Du nicht Reb Suscha?
Das große Lebensdrama des Propheten Jona ist eigentlich des Grunderlebnis eines jeden von uns: Können wir unserem Selbst entfliehen – und wie kommen wir immer wieder zu unserem von Gott gezeichneten Lebensweg zurück? Es eignet sich deshalb kein biblisches Buch besser zur Jom-Kippur-Vorlesung als das Buch Jona.
An diesem Tag der »Standortbestimmung« gibt uns dieses biblische Buch die Richtung an, in welcher jeder durch Gebet und innere Besinnlichkeit seinen eigentlichen Lebensweg finden kann.