von Wladimir Struminski
Deutschland und Israel verhandeln wieder über Entschädigung für NS-Verfolgte. Jerusalem möchte, dass die Bundesrepublik schätzungsweise 8.000 Monatsrenten für in Israel lebende Holocaust-Überlebende finanziert. Die jährlichen Kosten der neuen Leistungen werden auf umgerechnet 28 Millionen Euro geschätzt. Nach israelischen Medienberichten rechnet das Ministerpräsidentenamt mit einem Ja von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die nun von der Bundesrepublik beschlossene Entschädigungszahlung für ehemalige Ghetto-Arbeiter (siehe Info-Kasten) hat damit nichts zu tun. Sie versteht sich als Ausgleich für in den Ghettos geleistete Arbeit, wohingegen die israelische Regierung alle Inhaftierten entschädigen möchte, auch die, die keine Arbeit geleistet haben.
Allerdings muss Israels Staatskasse die entsprechenden Etatmittel auch dann locker machen, wenn aus Berlin eine Absage kommt. Zu den fraglichen Leistungen hat sich Ministerpräsident Olmert bereits im August gegenüber dem israelischen Verband der Überlebendenorganisationen verpflichtet, auch ohne deutsche Rückendeckung. Danach wird die israelische Staatskasse ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern und Ghettos, die keine Entschädigungsrenten beziehen, monatliche Leistungen von 1.200 Schekel (220 Euro) zukommen lassen. Zudem will die israelische Regierung dafür sorgen, dass das monatliche Gesamteinkommen ehemaliger Lager- und Ghettohäftlinge nicht unter 3.400 Schekel (460 Euro) sinkt. Schließlich soll ein Teil der Überlebenden verbesserte Leistungen auf dem Gebiet der Wohlfahrt und der medizinischen Versorgung bekommen. Dem Regierungsbeschluss waren Proteste von Überlebenden und deren Angehörigen vorausgegangen. (Vgl. Jüdische Allgemeine vom 23. August.)
Indessen lässt die Regelung Überlebende, die keine Lager- oder Ghettohaft erlitten haben, außen vor. Hierbei handelt es sich vor allem um Personen, die sich der drohenden Verfolgung durch das Dritte Reich oder dessen Verbündete durch Flucht entziehen konnten. Das Gros dieser Gruppe stellen Juden aus dem 1941 von der UdSSR besetzten Ostteil Polens und aus westlichen Gebieten der Sowjetunion in der Ukraine und Weißrussland. Von den ungefähr zwei Millionen Juden, die am 22. Juni 1941 in der Sowjetunion einschließlich Ostpolens und des Baltikums lebten, konnte ungefähr die Hälfte ins Innere der UdSSR flüchten und sich dem sicheren Tod entziehen. Die meisten polnischen Staatsbürger unter den Flüchtlingen wanderten in den 40er- und 50er-Jahren, die Sowjetbürger in den 70er- und 90er-Jahren aus; ein Großteil kam nach Israel.
Die meisten »Fluchtfälle«, wie sie im Entschädigungsjargon heißen, haben von der Bundesrepublik Deutschland Einmalleistungen erhalten. Eine wichtige Rolle spielte dabei der 1980 errichtete sogenannte Härtefonds, der den Ex-Flüchtlingen je 5.000 DM beziehungsweise den Gegenwert in Euro auszahlt. Wie aus Angaben der Conference on Jewish Material Claims against Germany (JCC) hervorgeht – sie verwaltet den Fonds –, wurden in den Jahren 1980 bis 2005 weltweit 306.000 Härtefondszahlungen zuerkannt. Während solche Leistungen den Empfängern zumin- dest in moralischer Hinsicht eine Genugtu- ung bedeuteten, war ihr praktischer Wert gering, erst recht im Zuge der inflationären Entwertung der deutschen Währung. Auch andere Verfolgtengruppen mussten sich mit Einmalleistungen begnügen, darunter Überlebende, die seinerzeit »nur« Ausgehverbote, Aussiedlung und andere Formen der Freiheitsbeschränkung erlitten, beispielsweise in Rumänien oder Bulgarien.
Demgegenüber ist die Zahl der KZ- und Ghettoüberlebenden, die keine Entschädigungsrente oder ähnliche laufende Leistungen beziehen, relativ gering. Zum einen liegt das an der Verfolgung selbst: Die allermeisten Juden, die ins Getriebe der NS-Mordmaschine in einem Ghetto oder einem KZ gerieten, haben die Befreiung nicht erlebt. Gängigen Schätzungen zufolge haben nur 120.000 bis 140.000 der heute weltweit noch rund 550.000 lebenden NS-Verfolgten KZ-Inhaftierung, Arbeitslager- oder Ghettohaft erlitten.
Das deutsche Bundesentschädigungsgesetz (BEG), 1953 verabschiedet und 1965 abschließend novelliert, erkannte den in seinen Geltungsbereich fallenden Verfolgten eine Entschädigung für Schäden an Körper und Gesundheit zu, wie sie nach Lager- und Ghettohaft weit verbreitet waren. Heute zahlt die Bundesrepublik noch rund 50.000 solcher Renten aus, fast ausschließlich an jüdische Verfolgte. Osteuropäische Juden, die vor 1953 nach Israel eingewandert waren, blieben aufgrund des deutsch-israelischen Reparationsvertrages von 1952 von der Anspruchsberechtigung nach dem BEG meist ausgeschlossen. Für sie verabschiedete die Knesset im Jahre 1956 das »Gesetz über Versehrte der Naziverfolgung«. Dieses gewährte ebenfalls »Gesundheitsrenten«, wie der volkstümliche Begriff lautet.
Eine weitere Gruppe sind die heute rund 50.000 Empfänger monatlicher Leistungen von 270 Euro im Rahmen des von der Claims Conference verwalteten, von der Bundesregierung nach der deutschen Vereinigung ins Leben gerufenen »Artikel-2-Fonds« für ehemalige Lager- und Ghettoinsassen sowie für die wenigen Verfolgten, die die Schoa im Versteck überleben konnten, ohne anschließend eine nennenswerte Entschädigung bekommen zu haben.
Rund 20.000 Überlebende mit vergleichbarem Schicksal, die heute noch auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks leben, erhalten im Rahmen eines »Mittel- und Osteuropafonds« 135 bis 175 Euro monatlich. Jüdische NS-Verfolgte, die während des Zweiten Weltkriegs Bürger westeuropäischer Staaten waren, fielen nach dem Krieg in die Zuständigkeit ihrer Regierungen und wurden im Rahmen allgemeiner Kriegsfolgen- und Sozialgesetze der jeweiligen Länder berücksichtigt. Grundsätzlich wurde die Leistungsberücksichtigung an eine amtlich festgestellte oder – bei besonderer Schwere der Verfolgung – unterstellte Schädigung und nicht an die Überlebenden-Eigenschaft an sich geknüpft.
Bestimmte Verfolgtengruppen wurden im Rahmen vieler Sonderregelungen bedacht, zu denen an vorderster Stelle der deutsche Zwangsarbeiterfonds (der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«) zählt. Heute erhalten die meisten Lager- und Ghettoinsassen eine Rente oder rentenähnliche monatliche Zahlung. Deshalb bleibt der finanzielle Umfang der neuen Leistungen, zu denen sich Israels Regierung verpflichtet, alles in allem überschaubar, ebenso wie der von der Bundesregierung zugesagte Sonderfonds für Ghetto-Arbeiter. Dagegen wird es eine Regelung, die jedem Holocaust-Überlebenden laufende Entschädigungsleistungen zuerkennt, wohl nicht mehr geben.