von Michael Borgstede
Zuallererst eine Richtigstellung: Marcel Sellouk hat seinen Friseursalon an der Ben-Jehuda-Straße 6 in Jerusalem nicht geschlossen. Diesbezügliche Medienberichte seien absolut unwahr und ein perfides Beispiel journalistischer Gewissenlosigkeit, versichert Marcel und kramt zum Beweis gleich seinen Terminkalender hervor. »Sehen Sie? Jeden Tag von 7 bis 13 ar-
beite ich. Sechs Stunden – 12 Kunden. Je-
den Tag! Schreiben Sie das!« Und wirklich, in feinsäuberlichen lateinischen Buchstaben finden sich in dem kleinen Büchlein die Namen seiner Kunden. Er habe den Salon nur »umstrukturiert«, erklärt er dann. Unten verkaufe sein Sohn nun Kosmetikprodukte mit dem Salz des Toten Meeres. Oben aber, auf einer Art Galerie, frisiert Marcel Sellouk weiter jene Kunden, die teilweise schon seit Jahrzehnten zu ihm kommen. Er reckt die Hand kurz in die Höhe: »Sehen sie, ganz ruhig. Ich zittere nicht.« So könne er noch Jahre weiterarbeiten, habe der Arzt ihm jüngst gesagt.
Wie das Gerücht von seiner freiwilligen Pensionierung in die Welt geraten sei, könne er sich nicht erklären. »Ach, Journalis-ten ...«, winkt er ab und erzählt gleich von einem anderen unschönen Erlebnis mit Medienvertretern. Da sei einmal eine junge israelische Kollegin bei ihm gewesen und habe sich lange mit ihm unterhalten. Nach Itzchak Schamir habe sie gefragt, dem Marcel immerhin 16 Jahre lang die Haare geschnitten hat. »Ich habe ihr gesagt, Schamir sei ein netter Mann gewesen und ein Politiker, der viel Gutes für Israel getan hat, sonst nichts.« In der Zeitung ha-
be hinterher gestanden, Schamir habe ihm nie Trinkgeld gegeben. »So ein Unsinn, das hat sie einfach erfunden.«
Wenn das Vorgehen der israelischen Kollegin auch nicht ganz die feine journalistische Art war, so darf man zu ihrer Entschuldigung anführen, dass es sich um eine journalistische Verzweiflungstat gehan-
delt haben muss. Denn Marcel Sellouk, der in seiner fünf Jahrzehnte währenden Karriere als Friseur mehrere Präsidenten, Ministerpräsidenten, Dutzende Knesset-Abgeordnete und zahllose andere israelische Prominente frisiert hat, nimmt es mit der Diskretion auch heute noch so genau, dass man daran als Journalist schon verzweifeln kann. Ehud Olmert, Teddy Kollek, Menachem Begin, Efraim Kazir, Shimon Peres und unzählige andere haben sich von Marcel die Haare schneiden lassen. Doch selbst mit einer Liste seiner prominenten Kunden will der verschwiegene Coiffeur nicht herausrücken: »Fragen Sie, dann sage ich ja oder nein. Denn wenn ich einen Kunden nenne und den anderen vergesse, dann ist der womöglich beleidigt.« Und als wolle er eine noch ungestellte Frage vorwegnehmen, stellt er dann klar, dass ihm natürlich allerlei Dinge zu Ohren gekommen seien, er diese Geheimnisse aber mit ins Grab nehmen werde. Marcel, der Friseur, nimmt seine Schweigepflicht eben mindestens so Ernst wie ein Psychotherapeut.
Ebenso diskret ist Marcel, was das eigene Alter angeht. »Das Alter ist doch nicht wichtig«, sagt er. »Was zählt, ist die Lebensfreude, die Energie.« So muss es denn genügen festzustellen, dass Marcel Sellouk 1950 nach Israel kam. Da hatte er seine noch in Marokko begonnene Ausbildung als Friseur bereits in Frankreich abgeschlossen. 1958 dann eröffnete er seinen Salon an der Ben-Jehuda-Straße 6. Dort befindet sich das spärlich, aber geschmackvoll eingerichtete Studio heute noch. Ein blauer Drehstuhl, ein Spiegel, eine kleine Kommode, ein Waschbecken, zahllose Bürsten und Scheren und eine Kaffeemaschine – mehr braucht es nicht für den perfekten Friseursalon. Und nichts weniger wollte Marcel seinen Kunden immer bieten: den perfekten Friseursalon.
Denn so ungern er über die Geheimnisse selbst längst verstorbener Politiker plaudert, umso lieber redet er über seinen Beruf, einen Beruf, den er in seiner Heimatstadt Casablanca erst nur auf Drängen des Vaters erlernte, der ihm aber bald zur Lebensaufgabe wurde. Dann leuchten Marcels blaue Augen und er kramt ein Buch aus einer Schublade: »Guide de la Coiffure« heißt es und ist so etwas wie die Bibel der höheren Friseurskunst. Die Kapitel tragen Namen wie »Das Skelett«, »Die Basen« oder »Die Säuren«, es wimmelt nur so von komplizierten chemischen Formeln und seitenweise werden verschiedenste Kämme und Bürsten vorgestellt sowie ihr perfekter Gebrauch erläutert. Marcel ist jetzt vor Begeisterung vom Hebräischen ins Französische zurückgefallen, das geschieht ihm im Laufe des Gespräches immer wieder. »Ein Friseur muss das Gesicht bauen«, erläutert er. Wer eine besonders lange Nase habe, dem könne unter Umständen ein hübscher kleiner Schnurrbart gut stehen und bei besonders langen, schmalen Gesichter, könne man mit extralangen Koteletten ansprechendere Proportionen vortäuschen.
Für Marcel, das wird im Gespräch schnell deutlich, war es eigentlich immer egal, ob die Haare auf seinem Drehstuhl nun irgendeinen unbekannten Israeli oder Shimon Peres gehörten. Es hat etwas Wunderbares, einen Mann weit über dem gesetzlichen Pensionsalter so leidenschaftlich von seinem Beruf sprechen zu hören. Hat er denn nie darüber nachgedacht, seinen Salon zu vergrößern und Helfer anzustellen? »Nein, ich achte auf meinen Namen«, sagt er. Das tut Marcel auf die radikalstmögliche Art und Weise und arbeitet seit Jahrzehnten allein. »Wenn ich jemanden anstelle und der einmal keine gute Arbeit macht, dann ist auch mein Name ruiniert«, sagt er und es klingt ganz einleuchtend.
Vielleicht sind Marcels Kunden deshalb besonders treu. Stolz erzählt er davon, dass fünf Generationen einer Familie zu seinen Kunden gehörten. Zwei Generationen seien unter seinen Kunden eigentlich das Minimum. »Ich arbeite ja auch schon seit 50 Jahren hier.«
Hat er zum 50. Jubiläum des Salons eine Party gefeiert? Marcel schüttelt nachdenklich den Kopf: »Nein, nein. Wissen Sie, wie sähe das denn aus? Andere Menschen haben nicht genug zu essen und ich gebe eine Party?« Das ist der andere Marcel, ein Marcel, der sich trotz seiner fröhlichen Natur große Sorgen um die Zu-
kunft seines Landes und seiner geliebten Heimatstadt, Jerusalem, macht. »Sehen Sie das?«, fragt er mit angewidertem Ge-
sichtsausdruck und zeigt auf ein hässliches Betonbecken mitten auf der Straße, wo ein schlecht bewässertes Bäumchen um sein Überleben kämpft. »Das ist doch schrecklich«, regt er sich auf. »Es ist hässlich und unhygienisch, da pinkeln Hunde wie Kinder an den Baum. Welches Land leistet sich eine solch heruntergekommene Hauptstadt?« Er habe jedenfalls einen Traum: irgendwann werde Israel verstehen, was es dieser Straße schuldig sei, und die Ben-Jehuda würde zu einer Art Champs-Elysées Jerusalems werden. Das sind die Dinge, über die er sich allmorgendlich um 5 Uhr im Kreise seiner Freunde bei einer Tasse Kaffee ärgert.
»Das Parlament«, nennen sie die tägliche Zusammenkunft, weil dort alle weltpolitischen Probleme diskutiert würden. »Es geht doch zum Beispiel nicht an, dass unsere begabtesten Kinder das Land verlassen! Damals, nach meiner Ankunft, wollten wir ein Volk schaffen mit einer eigenen Identität.« Da mache es ihn traurig, wenn es heute noch immer um dieselben Unterschiede ginge: »Misrachim, Aschkenasim, Russen – wir sind doch alle Israelis. Wir müssen Frieden mit uns selbst schließen.« Und mit den Nachbarn auch? »Selbstverständlich. Beide Völker sind doch müde.« Der dauernde Schmerz zermürbe. »Wenn ich heute eine Beerdigung eines dieser jungen Männer sehe, das schmerzt mich. Das muss ein Ende haben. Ich bin lieber klein bei mir zu Hause als groß bei anderen im Hause.«
Ob er trotz allem ein Optimist sei? Marcel denkt einen Augenblick nach, antwortet dann mit einer Gegenfrage: »Was ist ein Optimist? Ein Mensch, der daran glaubt, dass es besser wird. Wenn man aber lange daran geglaubt hat, das es besser wird und es wird nicht besser – dann wird es auch schwerer, ein Optimist zu sein.« Doch er sagt das schon wieder mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen.