von Alfred Bodenheimer
Wenn wir den Wochenabschnitt Noah lesen, werden wir mit etlichen Fragen konfrontiert. Weshalb wollten die Bewohner Babels, als sie die Kunst des Ziegelbrennens entdeckt hatten, einen Turm bauen, »dessen Spitze in den Himmel ragt«, wie es am Anfang des elften Kapitels des 1. Buches Moses heißt? Und weshalb hat Gott sie durch die Durchmischung von Sprachen, durch ein plötzliches Aneinandervorbeireden, bestraft, so daß sie ihr Projekt abbrachen und sich über die Erde verstreuten?
Fast einhellig, wenn auch mit Unterschieden in Nuancen, kommentieren Mischna, Talmud und die späteren Rabbinen: Diese Leute leugneten die Grundsätze des Glaubens an Gott, sie wollten einen Turm bauen, um den Ewigen im Himmel zu bekämpfen. Sie wollten, wie es heißt, sich »einen Namen machen, damit wir nicht über die Erde verstreut werden« (1. Buch Moses, 11,4). Raschi interpretiert, daß sie gegen jede göttliche Plage, die sie aus ihrer Stadt vertreiben könnte, gewappnet wären.
Gegen all dies läßt sich vielleicht ein besonders entscheidender, wenn auch lapidarer Einwand vorbringen: Es steht ausdrücklich geschrieben, daß die Menschen sich in der Tiefebene (hebr. bik’a) im Lande Schin’ar ansiedelten (1. Buch Moses, 11,1). Aber baut jemand, der in den Himmel bauen will, wirklich in der Tiefebene? Fängt er nicht wenigstens an erhöhter Stelle an?
Die andere eingangs gestellte Frage, weshalb Gott die besagte Strafe über die Menschen von Babel verhängte, läßt sich nicht einfach beantworten. Wenn Gott wirklich die Einbildung dieser Menschen bestrafen wollte, hätte er nicht die beste Methode gefunden? Er hätte sie einfach weiterbauen lassen können – bis sie schließlich eingesehen hätten, daß es eine Illusion ist, in den Himmel hineinzubauen und Gott dort Konkurrenz zu machen. Wirkt Gottes Verhinderung des Baus nicht beinahe so, als hätte er tatsächlich befürchtet, sie könnten ihn auf Seinem erhabenen Thron in Bedrängnis bringen und habe deshalb vorgebeugt? Dies kann doch nicht der Sinn dieser Tora-Erzählung sein.
Es scheint, die Beschäftigung mit dem Turmbau versperrt wesentlich den Blick auf andere Elemente dieser Erzählung: »Sie sagten: ›Auf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, und seine Spitze soll in den Himmel ragen, und wir werden uns einen Namen machen, damit wir nicht über die Erde verstreut werden.‹« Weshalb ist hier von einer Stadt die Rede, was spielt sie für eine Rolle, wenn wir nur vom technisch wie theologisch übermütigen Projekt des Turmbaus sprechen? Und ist es wirklich logisch gedacht, daß man von einem Turmbau erwartet, nicht mehr über die Erde verstreut zu werden? Was wäre denn daran überhaupt so schlecht, die Welt ist ja noch weitgehend leer.
Es gibt jedoch eine Deutung, die vom Kanon der Deutungen vollkommen abweicht und den Turmbau in einen völlig anderen Kontext stellt. Rabbiner Naftali Jehuda Zwi Berlin (Neziw) schreibt in seiner Tora-Erklärung, daß es zwar nichts Anstößiges gibt an dem Satz: »Und es war auf der ganzen Erde eine Sprache und einerlei Worte« – meist gedeutet als Worte der Einheit. Der Zustand der Einheit habe aber dennoch den Keim eines falschen Weges enthalten.
Den Ausdruck »Lasset uns Ziegel herstellen und brennen zu Brand« deutet Neziw nicht als Aufruf zum Ziegelbrennen. Zwar sei der Ofen sicherlich zum Zweck der Ziegelbrennerei gebaut worden, doch die Erwähnung dieses Aufrufs zum »Brennen« bezieht er auf den Midrasch, nach welchem Abraham von Nimrod in den Feuerofen geworfen wurde. Das »Brennen« ist also hier kein technischer Vorgang, sondern eine Tötungsart in einem unmenschlichen System. Ebenso der Städtebau selbst. Die Bewohner Babels beabsichtigen, nicht die einzige, aber die herrschende Stadt auf Erden zu werden. Und ihr Turm sollte dazu dienen, zu beobachten, daß andere Städte sich nicht aus der Herrschaft Babels herauslösen.
Nicht Himmelsstürmer also waren laut Neziw die Leute von Babel, sondern die Verwalter ihres eigenen Machtsystems, dessen Symbol der in den Himmel ragende Kontrollturm werden sollte. Deshalb hatten sie auch Angst davor, zerstreut zu werden: Zerstreuung bedeutet Absonderung einzelner Glieder der Gesellschaft und Zerschlagung ihrer alle einigenden Doktrin.
Die Leute von Babel befürchten Zerstreuung nicht als Folge, aber als mögliche Ursache ihres Untergangs – wenn die Unterdrückten sich eines Tages gegen sie wenden würden. Der das Zentrum bietende Turm soll deshalb auch verhindern, daß Leute sich aus dem in der Tiefebene gelegenen Städtesystem entfernen.
Für Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, die totalitäre Systeme, ihr gewaltsames Beharren auf Einheit des kollektiven Willens, ihre paranoide Angst vor Dissidenten und deren drakonische Bestrafung erlebt haben, wirft diese Deutung ein erhellendes neues Bild auf den Turmbau zu Babel. Auch die Bestrafung entpuppt sich so als Befreiung der Menschen und die Aufsplitterung in eine pluralistische Gesellschaft. Sie zeigt Gott nicht als eifrigen Verteidiger seiner im Grunde nicht gefährdeten Hoheit, sondern als erhabenen und gewaltlosen Zerstörer eines totalitären Systems.
Noach: 1. Buch Moses 6,9 bis 11,32