von Ellen Presser
Am 3. September 2000 war es so weit: Es gab zum ersten Mal den Europäischen Tag der Jüdischen Kultur. Ursprünglich waren 16 Länder an dem Event beteiligt, inzwischen machen an die 30 mit, von Portugal bis Mazedonien und von Norwegen bis zur Ukraine. 2006 sollen rund 180.000 Besucher mobilisiert worden sein. Das ist europaweit gesehen zwar wenig, aber bezogen auf Regionen, in denen es kein jüdisches Leben mehr gibt, gar nicht schlecht. Im öffentlichen Bewusstsein ist dieser Tag noch kaum ein Begriff – aber auf dem besten Wege, einer zu werden. Berlin hat seine alljährlichen Kulturtage vom November um gut zwei Monate vorverlegt und damit den europäisch-jüdischen Kulturtag, es ist jeweils der erste Sonntag im September, mit einbezogen (vgl. S. 17, 19, 20).
Üblich ist es, für diesen Tag Generalthemen auszugeben. Sie sind bündelnd und beliebig, wie dies bei einem länderübergreifenden Großereignis nicht anders sein kann: »Lernen im Judentum« (2004), »Zeugnisse und Erinnerungen« (2006) und »Zeugnisse jüdischer Kultur« (2007). Manchmal liest sich das Veranstaltungsprogramm wie die Inventarliste eines Heimatpflegers, der sich um verwaiste Synagogen und vergessene jüdische Friedhöfe kümmert, oder wie das Schaustellerverzeichnis eines Jahrmarkts des Jüdischen, mit jeder Menge Tinnef und Talmi, Gejiddel und Gefiedel. Das ruft Kritiker auf den Plan. Doch sie unterschätzen die Kraft von Festivals und Festwochen, Kulturtagen und Wochenend-Events als Talentbörsen und Foren kriti- scher Begegnung, als finanziell förderwürdige Projekte, gerade dort, wo Instandhaltung ohne öffentlichkeitsbezogene Gedenkkultur sonst keine Chance hätte. Und wie auf jedem Jahrmarkt gehören auch Wahrsager dazu. Diese Rolle übernehmen am liebsten Publizisten, Politiker, Gemeindevertreter und Historiker. Sie liefern Analysen des Vergangenen und Prognosen für das Künftige. Ich habe in zweieinhalb Jahrzehnten der Kulturarbeit in einer jüdischen Großgemeinde verfolgen können, was von den Ankündigungen und Prophezeihungen, den Hoffnungen und Unkenrufen eintrat.
Die Debatte über Schein oder Sein jüdischer Kultur gehört zu den hartnäckigsten Phantasmen. In der Regel wird nur die Kultur wahrgenommen, die sich im Schreiben, Interpretieren, Vortragen und Inszenieren ausdrückt. Denn diese sucht ein Publikum, will wahrgenommen, gewürdigt, kommentiert und gefeiert werden. Gleichzeitig findet Kultur – ohne sich als solche zu bezeichnen – tagtäglich abseits des Rampenlichts statt: in Synagogen, jüdischen Kindergärten, Sozialabteilungen und bei jeder Purim-Party. Die Erziehung der Kinder, die Gewähr des täglichen Minjans, die Fürsorge für Bedürftige, die Verwaltung einer Gemeinde, die Organisation des sozialen Lebens verkörpern vermutlich sehr viel weitreichender jüdische Kultur als ein Empfang zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin für die Schönen und Prominenten. Aber das miteinander zu vergleichen, ist wohl schon unfair, weil es in einem Fall um den Erhalt jüdischen Gemeindelebens geht, im anderen Fall darum, Jüdisches zu konservieren und zu präsentieren.
Es gibt also verschiedene Lesarten, was jüdische Kultur ausmacht: Wird sie in einer funktionierenden Gemeinde gepflegt? Werden ihre Überreste zweckentfremdet? Wird ihr Verschwinden beklagt? Geht es um Jüdisches von Juden für Juden oder um Pseudojüdisches von Produzenten aller Couleur für Nichtjuden? Geht es um authentische jüdische Kultur oder um Kultivierung von Jüdischem? Die Verwechslungsgefahr ist groß, denn es gibt Schnittmengen und Beteiligte, die in verschiedenen Welten zu Hause sind, auch die angesprochenen Kreise mögen unterschiedlich sein. Single-Weekends und Jugendkongresse unterstützen die jüdische Partnersuche, »Limmud«- Lerntage und »Tarbut«-Kulturtagungen wenden sich an ein jüdisches Publikum. Jüdische Kulturtage, Kollegs und Volkshochschulen hingegen schaffen eher einen Rahmen für Nichtjuden, die Wissen über Jüdisches erwerben wollen.
Ist nichtjüdische Neugier aufrichtig und zugewandt oder voyeuristisch und sentimental? Diese Frage mündet seit jeher in eher akademische Debatten. Abgesehen davon können die Nichtjuden es uns sowieso nie recht machen: Wollen sie Synagogen besichtigen oder Zeitzeugen einladen, fühlen wir uns auf dem Präsentierteller. Interessieren sie sich nicht, dann werfen wir ihnen Verdrängung und Ignoranz vor.
Pro-und-Contra-Debatten über Jüdische Kulturtage sind überholt. Sie waren einzig ein deutsches Phänomen. Nur hier waren die Innenwelt der Überlebenden und die nichtjüdische Außenwelt so deutlich und gewollt voneinander getrennt. Bis Anfang der 80er-Jahre. Dann wurde offenkundig: Man war geblieben, hatte die jüdischen Gemeinden nicht abgewickelt, sondern aufrechterhalten. Inzwischen schwinden die Berührungsängste – auf beiden Seiten. Auch dafür steht der Europäische Tag der Jüdischen Kultur.
Die Autorin leitet das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München.