von Wladimir Struminski
Dem Sommer sieht Rachel mit Entsetzen entgegen. »Zwei Monate Ferien? Wie soll ich das überleben?«, sorgt sich die 32jährige Angestellte und Mutter eines Erstkläßlers aus Jerusalem bei einer Begegnung mit ihrer Freundin Gila. »Es war doch gerade schulfrei. Warum kann die Schule nicht normal arbeiten? Schließlich muß ich es auch.« Über so viel Aufregung kann Gila, als Mutter von drei Kindern im schulpflichtigen Alter schon lange mit dem israelischen Erziehungswesen vertraut, nur müde lächeln. »Kacha se«, so ist es halt, seufzt sie. Warum, meinst du, bleibe ich zu Hause? Weil ich will? Nein, weil ich muß.«
Dialoge wie diesen hört man in Israel immer wieder. Die langen und häufigen Schulferien stellen für die meisten Familien ein schwerwiegendes Problem dar. Zu den langen Sommerferien, den gesamten Juli und August über, kommen die Neujahrs- und Pessach-Ferien im Herbst und im Frühjahr mit jeweils zweieinhalb Wochen hinzu. Auch zu Lag BaOmer oder zu Chanukka gibt es schulfrei. Wie das Erziehungsministerium auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen erklärte, wird an Grundschulen, die sonntags bis freitags ihre Pforten öffnen, insgesamt an 220 Tagen im Jahr gelernt. Die wöchentliche Verweildauer der Kinder in der Schule, Unterricht und Pausen inklusive, liegt bei 27,5 Stunden pro Woche beziehungsweise 1.008 Stunden im Jahr. Demgegenüber liegt die Arbeitszeit eines ganztagsbeschäftigten Elternteils bei rund 2.000 Stunden, will heißen beim Doppelten. Diese Diskrepanz zu überbrücken, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der gestreßten Eltern.
Eine gängige Strategie lautet: Ein Elternteil, in der Praxis fast immer die Mutter, verzichtet auf den Broterwerb. Nawa, Ex-Verkäuferin mit zwei schulpflichtigen Kindern, rechnet vor: »Ich könnte 4.000 Schekel netto verdienen. Es würde sich aber nicht lohnen. Selbst in einem Monat ohne Schulferien müßte ich die Kinder zu einem Nachmittagsprogramm schicken oder ein Kindermädchen engagieren.« Allein das würde umgerechnet rund dreihundert Euro pro Monat kosten. Auch schulfreie Tage und die Sommerferien sind teuer zu bezahlen. »Unter dem Strich würden mir eintausend Schekel pro Monat bleiben.« Wie Nawa ergeht es vielen: Wenn nur 45 Prozent aller erwachsenen Israelinnen einer Beschäftigung nachgehen, so liegt das nicht zuletzt an den langen Schulferien und kurzen Schultagen.
Andere Arbeitnehmerinnen geben nicht so leicht nach, vor allem, wenn das Gehalt attraktiv ist, doch müssen auch sie Nachteile erfahren. »Eine Frau mit drei schulpflichtigen Kindern macht keine Karriere«, klagt Netali. Die Tel Aviver Manage-
rin muß machtlos zusehen, wie sie auf der Hierarchieleiter ihrer Firma von Männern einge- und überholt wird. Etwas besser hat es Dworit: Ihr Mann ist Universitätsdozent und arbeitet an zwei Tagen in der Woche zu Hause. Dann geht Dworit zu Fortbildungsmaßnahmen, die ihr Gehalt etwas aufbessern werden. Gleichwohl ist die große Karriere auch für sie nicht drin.
Das unterentwickelte Schulwesen belastet aber nicht nur die Familien, sondern bedroht die Zukunft von Staat und Gesellschaft. Wenn die schulischen Erfolge israe- lischer Kinder weit unter dem Durchschnitt anderer Industrieländer liegen, so liegt es nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an ungenügender Wissensvermittlung. Selbst den Ansprüchen des eigenen Erziehungsministeriums genügen die Schulen nicht. Im vergangenen Jahr haben nur vier von zehn Zwölftkläßlern die Reifeprüfung bestanden. Dabei haben Untersuchungen in Israel und im Ausland eindeutig erwiesen, daß ein längerer Schultag zu viel besseren Lernerfolgen führt und relativ preiswert ist – günstiger beispielsweise als der Versuch, die Größe der Schulklassen zu reduzieren. Eltern, die ihren Kindern trotz der Bildungsmisere einen guten Start ins Leben sichern wollen, investieren in Zusatzunterricht. Einer Schätzung zufolge geben gutverdienende Eltern bis zu 100 Euro pro Monat und Kind für Nachhilfeunterricht und zusätzliche Lernprogramme aus. Dagegen bleiben die Armen im Mittelmaß stecken – und bleiben arm. Nicht umsonst mahnt selbst die neoliberale Bank von Israel bessere Bildung als ein Instrument der Armutsbekämpfung an.
Eine Aufstockung der Stundenzahl ist seit langem im Gespräch – bisher ergebnislos. Vor zwei Jahren forderte die unter großem PR-Getöse eingesetzte Expertenkommission unter dem Vorsitz des Geschäfts- mannes Schlomo Dowrath, für alle Kinder die Ganztagsschule von 8 bis 16 Uhr. Die Empfehlungen wurden auf Eis gelegt. Die für mehr Unterricht erforderlichen Etatmittel sind nicht da. Eine Verkürzung der Feriendauer – sie würde höhere Lehrerzahlen verlangen und damit ins Geld gehen – steht ebenfalls nicht ins Haus. Zwar wurden, so das Erziehungsressort, auch hier Vorschläge unterbreitet, letztendlich aber nicht realisiert.