von Chajm Guski
»Wie Regen träufle meine Lehre, es riesele gleich dem Tau mein Spruch, wie Regenschauer auf das Grüne, wie Wolkengüsse auf das Gras … Ein Fels ist er, sein Tun vollkommen«: Dies ist der poetische Beginn des 43 Verse langen Liedes von Moses, das einen großen Teil der Parascha Ha’asinu ausmacht. Die Tora wechselt hier von der dritten in die erste Person. Zuvor wurde berichtet, erzählt und instruiert. Nun spricht Moses direkt zu den Kindern Israels, sowohl damaligen, unmittelbaren Zuhörern, als auch durch die Tora zu uns, den heutigen Lesern und Zuhörern in der Synagoge.
Einige sind sicherlich verstört, wenn sie daran denken, dass Moses diese Worte im Angesicht seines Todes formuliert hat. Der Tod verstört die meisten von uns, ebenso die Tatsache, dass jeder Mensch, ganz gleich welche Größe er besitzt, einmal diesen Weg gehen wird. Einige trösten sich damit, dass das Leben eine Art Prüfung sei, andere suchen den Ausweg in Philosophien, die das Leben gleichfalls nur als Zwischenphase betrachten.
Moses ist ein Gegenbeispiel, er schätzt und nutzt das Leben an sich, den sprichwörtlichen Weg als Ziel. Schon allein dadurch, dass Moses sich einem Ziel widmet angesichts der Tatsache, dass alles »nichtig und flüchtig« ist, wie es in den ersten Zeilen von Kohelet heißt, wird er zu einem Vorbild und Symbol. Wer bleibt schon einer Vergnügung fern, nur weil sie zeitlich begrenzt ist?
Moses ist sich dessen bewusst, dass er den letzten Teil der Reise der Kinder Israels, die Ankunft im verheißenen Land, selbst nicht mehr erleben wird. Dennoch preist er Gott in diesem Lied und nennt Ihn einen Felsen. Zuvor hat er sich noch einmal seine eigene Endlichkeit bewusst gemacht: Er spricht zu Beginn den Himmel und die Erde als Symbole der Dinge an, die über die Lebensdauer eines Menschen hinaus Bestand haben.
Wie wird dieser Felsen in unserer Parascha charakterisiert? »Ta’amim pa’alo –sein Tun ist vollkommen«. In Anbetracht von Moses’ bevorstehendem Tod hat diese Wendung in seinem Lied einen bitteren Beigeschmack. Beinahe ironisch klingt sie, wenn wir zurückblicken und betrachten, warum Moses das Land nicht betreten darf.
In der Parascha Chukat wird erzählt, wie sich das Volk über den Mangel an Wasser beschwert. Moses nahm daraufhin seinen Stab und schlug zweimal gegen einen Felsen, obwohl Gott ihm ein anderes Vorgehen geboten hatte. Weil Moses die Heiligkeit Gottes nicht vor den Kindern Israels bezeugt hatte, sprach Gott zu Aaron und Moses, dass sie das Land Israel nicht betreten würden. Moses konnte also das Land wegen seiner Handlungen an einem Felsen, einem Stein, nicht betreten.
Franz Kafka hält dazu am 19. Oktober 1921, also in der Woche nach Lesung des Abschnitts Ha’asinu, in seinem Tagebuch fest: »Nicht weil sein Leben zu kurz war, kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war.«
Nennt Moses deshalb Gott nun einen Felsen? Ganz so ironisch ist der Text in Ha’asinu dann doch nicht, denn der direkte Zusammenhang besteht nur in der Übersetzung des Textes. In unserer Parascha Ha’asinu ist das hebräische Wort, das mit »Felsen« übersetzt wird, das Wort »Tzur«. In Chukat ist es das Wort »Sela«. Beide haben ähnliche, nur minimal voneinander abweichende Bedeutungen, aber sind noch immer zwei verschiedene Begriffe. Im zweiten Buch Samuel, aus dem an diesem Schabbat in sefardischen Synagogen die Haftara gelesen wird, findet man die beiden Begriffe aber zusammen: »Ewiger, mein Fels (Sela) und meine Burg und mein Erretter. Gott, mein Fels (Tzur), hinter dem ich Zuflucht finde, mein Schild, Du meine Feste und meine Zuflucht, mein Helfer, der vor Gewalt mich schützt«, heißt es dort (2. Samuel 22,2). Raschi merkt zum zweiten Satzteil an, dass man sich wie hinter einem großen Stein vor Feinden und den Elementen schützen könne.
All dies würde aber eine gewisse Einschränkung bedeuten, denn Felsen bewegen sich nicht und bieten keinen aktiven Schutz. Sie sind einfach vorhanden und können als Deckung genutzt werden. Vor der Amida sprechen wir jedoch: »Fels Israels, erhebe Dich zur Hilfe Israels«. Wie kann ein Stein, ein Fels, also aktiv werden? Indem man eine andere, etwas wörtlichere Bedeutung des Wortes »Tzur« hinzuzieht, macht man die Bedeutung dieses Begriffs etwas klarer und zeigt Facetten, die eine Übersetzung des Toratextes nicht zu Tage fördert: »Tzur« meint nämlich eine spezielle Art von Gestein: Feuerstein oder auch Flintstein genannt. Feuersteine wurden schon seit der Steinzeit verarbeitet, man verwendete sie auch im Altertum häufig für die Herstellung von Pfeilspitzen. Aus dem Stein wurde so der Teil einer Waffe. Die Abwehr ist also nicht ausschließlich abschirmend, sondern beinhaltet auch eine offensive Komponente – im Gegensatz zu dem Stein, der im Hebräischen als »Sela« bezeichnet wird. Dieser hat keine aktive Komponente und meint tatsächlich den Stein, hinter den man sich passiv zurückziehen kann, um sich zu schützen, sofern er groß genug ist.
Das Wort »Tzur« beschreibt Gott als unveränderlichen und unüberwindbaren, ja ewigen Felsen, der seinem Volk zur Seite steht – ein sehr ausdrucksstarkes sprachliches Bild, das in vielfältiger Weise in die Gebete des Judentums eingegangen ist. Es ist auch Teil des Tziduk haDin, der Anerkennung des Gerichts bei der Beerdigung, die mit der Wendung »Ha Tzur Tamim« beginnt. Dort steht der »Tzur« als Nachwort für ein menschliches Leben, gesprochen durch diejenigen, die weiter auf einem Weg unterwegs sind, den jemand anderes begonnen hat.
Oder wie Rabbi Tarfon es in den Sprüchen der Väter, sagt: »Auch wenn es dir nicht obliegt, das Werk zu vollenden, so bist du doch nicht befugt, nicht damit zu beginnen« (Sprüche der Väter 2,21). Denn das, was wir bisher in der Tora gelesen oder aus ihr gehört haben, »sind keine leeren Worte, sondern daran hängt euer Leben« (5. Buch Moses 32,47). Deshalb sind wir, gerade in den Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, dazu aufgefordert, dem Beispiel Moses’ zu folgen und das Beste aus dem Leben zu machen.
Ha’asinu: 5. Buch Moses 32, 1-52