von Uwe Scheele
Die Sonne scheint an diesem heiteren Herbsttag fast sommerlich warm, leicht bekleidet schlendern die Touristen durch die Einkaufsstraße Main Street. Man versteht, warum Solomon Levy sein Gibraltar als gesegnetes Land bezeichnet. Levy ist ein echter Gibraltareño, seit 250 Jahren wohnt seine Familie auf dem Felsen an der Südspitze der Iberischen Halbinsel. Sein Immobilienbüro liegt mitten in Gibraltars politischem Zentrum, vis à vis vom Gouver- neurspalast und dem Sitz des Obersten Ministers. Er kennt sie beide gut. Solomon »Momi« Levy ist stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Gibraltars und überzeugter Patriot. »Wir sind weder Engländer noch Spanier, wir sind Gibraltareños«, erklärt der 71-Jährige in andalusischem Spanisch und schiebt gleich eine eigenwillige Erklärung des Sonderstatus der britischen Kronkolonie hinterher: »British we are, british we stay, but Spanish we speak all day.« Alle Gibraltareños sind zweisprachig.
Die Beziehungen zu den spanischen Nachbarn waren dagegen meist angespannt, seit die Briten vor mehr als 300 Jahren die felsige Halbinsel von den Spaniern eroberten. 1713 wurde das Gebiet im Vertrag von Utrecht formell den Briten zugesprochen, Juden und Mauren, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren, durften sich dort zunächst nicht ansiedeln. Doch die Briten ließen bald jüdische Händler in die Stadt. 1749 wurde die erste Synagoge eröffnet, die zusammen mit drei anderen noch heute in Betrieb ist. Es kamen hauptsächlich Sefarden aus dem heutigen Marokko, Nachfahren der aus Spanien vertriebenen Juden. Die jüdische Gemeinde wuchs im 19. Jahrhundert auf fast 2.000 Mitglieder an, das war nahezu die Hälfte der zivilen Bevölkerung. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Felsen zum Militärstützpunkt ausgebaut, die gesamte Zivilbevölkerung evakuiert. Nicht alle Bewohner kehrten zurück.
Levys Familie kam zurück, Momi wurde Soldat. 18 Jahre diente er in der Marine von Gibraltar, er war der einzige jüdische Offizier. Nicht leicht für einen orthodoxen Juden, der die Kaschrut beachtet: »Ich habe mich hauptsächlich von gekochten Eiern, Räucherlachs und Obst ernährt«, erzählt er. Vor dem samstäglichen Salut- schießen holte er sich Rat von seinem Rabbiner. Da er nur den Befehl gab, erhielt er die Erlaubnis. Orthodox und pragmatisch ist er, so wie viele jüdische Gibraltareños.
650 Juden wohnen heute in Gibraltar, das sind rund zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein Korrespondent der israelischen Tageszeitung Ha’aretz staunte kürzlich über die bemerkenswerte Mischung aus Orthodoxie und Modernität, die er in der Gemeinde beobachtete. Religiosität und Weltoffenheit gehören hier zusammen. Alle jüdischen Geschäfte sind am Schabbat geschlossen, die vier Synagogen gut besucht. In der Stadt gibt es drei Geschäfte mit koscheren Lebensmitteln, eine jüdische Grundschule und zwei weiterführende Schulen für Mädchen und Jungen, ein koscheres Restaurant, ein jüdisches Kulturzentrum, eine Mikwe und sogar ein Kollel mit fünf Rabbinern. Eine beeindruckende Infrastruktur für eine kleine Gemeinde.
Die jüdische Grundschule bekommt einen Zuschuss von der Stadt, und in den koscheren Geschäften kaufen nicht nur jüdische Kunden: »Wir haben uns auf vegetarische und glutenfreie Nahrungsmittel spezialisiert, denn fürs Geschäft leben hier nicht genug Juden«, erklärt Sam Garson, Inhaber des koscheren Delikatessgeschäfts »Uncle Sam’s«.
In Gibraltar scheint es keine Berührungsängste zwischen den Religionen zu geben. »Wir leben nun mal sehr eng zusammen. Zu Purim lade ich immer meine christlichen und muslimischen Nachbarn ein«, sagt David Benaim. Er ist Autohändler und israelischer Honorarkonsul. Sein Großvater war der erste Honorarkonsul Israels, er kümmerte sich in den 50er-Jahren um die Emigration Tausender marokkanischer Juden nach Israel und Amerika. Das Honorarkonsulat war eine pure Notwendigkeit: Franco-Spanien unterhielt keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Heute betreut der israelische Honorarkonsul in erster Linie israelische Besucher und die 60 in Gibraltar gemeldeten israelischen Staatsbürger, die mehrheitlich Glücksspielagenturen im Internet betreiben. Und er kümmert sich um Unternehmen, die mit Israel Handel treiben wollen.
»Unsere Gemeinde ist sehr dynamisch«, meint Benaim. »Viele junge Paare kommen nach ihrer Ausbildung in Großbritannien oder Israel zurück nach Gibraltar. Die Gemeinde wächst wieder.« Das war nicht immer so. 1969 ließ Franco die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar schließen. Bis 1985 war die Einreise nach Spanien nur über Marokko möglich. Das schränkte die Lebensqualität und Perspektiven der Gibraltareños enorm ein. Doch das sehen nicht alle so: »Franco hat uns damit doch einen Gefallen getan«, behauptet Solomon Levy. »Wir haben mit einem Mal gemerkt, dass wir alle Gibraltareños sind, ganz gleich, welcher Herkunft und Religion.« Ein Jude lenkte damals die Geschicke der Stadt: Joshua Hassan, ein Onkel von Solomon Levy. 23 Jahre war er Bürgermeister und 17 Jahre Oberster Minister von Gibraltar. Sicher eine Schlüsselfigur dafür, dass die Juden hier so gut in die Gesellschaft integriert sind wie wohl nirgendwo sonst in Europa.
In Gibraltar gebe es keinen Antisemitismus, sagt David Benaim. »Sicher, mal so Dummheiten unter Kindern«, räumt er ein, »aber das bleibt die Ausnahme. Wir haben nie Schmierereien an unseren Synagogen.« An jedem Schabbat erbittet die Gemeinde Gottes Segen für die britische Königin und ihre Familie – es sind die einzigen englischen Worte während der Gebete. Die Hymne »God save the Queen« haben die Juden von Gibraltar zur 300-Jahr-Feier der englischen Einnahme des Landes vor drei Jahren auf Hebräisch gesungen. Solomon Levy ist stolz auf seine Gemeinde. Und er ist stolz auf die Queen, die ihm 1999 den Titel »Member of the British Empire« verlieh.