Schlecht verankertvon Josef Schuster
Als Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 das Lager Auschwitz betraten, fanden sie noch 7.650 halb verhungerte, kranke und schwache Häftlinge vor. In Birkenau hatten sie die Leichen von 600 Häftlingen gefunden, die nur wenige Stunden vor der Befreiung des Lagers getötet worden waren. Seit dem 1. Dezember 1944 waren mehr als 514.000 Menschen aus dem Lager abtransportiert worden. Die wenigen, die in Auschwitz verblieben waren, hatte die SS in der Eile ihrer Flucht nicht mehr töten können.
Der Name Auschwitz steht seitdem für das monströseste Verbrechen, das die Menschheit kennt: die Schoa, den Holocaust an den europäischen Juden. Der Tag der Befreiung dieses Ortes des Schreckens soll, nach dem Vorschlag, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 machte, seitdem die Menschen an dieses Verbrechen erinnern und mahnen. Zunächst wurde dieser 27. Januar nur in Deutschland als Gedenktag begangen, inzwischen gedenkt man der Opfer in den meisten Ländern Europas, und auch die Vereinten Nationen haben dazu aufgerufen, sich an diesem Tag an das Unvorstellbare zu erinnern, als sie den 27. Januar eines jeden Jahres zum »Internationalen Ho- locaust-Gedenktag« bestimmten.
Man sollte meinen, dass dieser Gedenktag besonders in Deutschland begangen wird – schließlich waren es Deutsche, die die Schoa erdachten und exekutierten. Das war in den ersten Jahren auch der Fall. Und das ist leider nicht mehr so. In München, zum Beispiel, fand an diesem Tag der Faschingsumzug der »Damischen Ritter« statt, mit Tausenden von Närrinnen und Narren. Auf die scharfe Kritik des Zentralrats äußerte der erste Vorsitzende sein Unverständnis über den »späten Protest«. Schließlich sei seit Mai bekannt, dass der Faschingsumzug am 27. Januar stattfinden solle. Den »Damischen Rittern« war der internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wohl nicht bewusst, aber offenbar ebenso wenig den Verantwortlichen der Millionenstadt München. In Regensburg wurde der ebenfalls für diesen Tag geplante Faschingsumzug aufgrund von Protesten der jüdischen Gemeinde auf das kommende Wochenende verschoben.
Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass das Gedenken an diesem Tag in der Bevölkerung wenig oder meist gar nicht verankert ist. Ich bin sicher, dass es in den Karnevalshochburgen Deutschlands am 27. Januar noch mehr Lustbarkeiten gab als die in München und die ursprünglich in Regensburg geplante. Ich möchte nicht missverstanden werden: Ich spreche mich nicht etwa für eine Abschaffung dieses Gedenktages aus. Jede Gelegenheit ist gut und unverzichtbar, der Opfer zu gedenken und daraus für Gegenwart und Zukunft die Lehre zu ziehen, dass dieser Massenmord an sechs Millionen Juden in Europa mit Wegschauen und Mitlaufen, mit Gleichgültigkeit und Opportunismus begann.
Für uns Juden bedarf es dieses Gedenktages eigentlich nicht. An Jom Haschoa, den wir einige Tage vor dem freudigen Festtag des Gründungstages Israels begehen, gedenken wir der Opfer der Nazis, und in unseren Familien sind und waren wir jeden Tag mit diesem Verbrechen konfrontiert. Die Angstträume unserer überlebenden Väter und Mütter, der Umstand, dass die meisten Juden meiner Generation ohne Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen, Großväter und Großmütter aufwachsen mussten, zwingt uns die Erinnerung auf, ob wir wollen oder nicht.
Aber dass die nichtjüdische Bevölkerung mit abnehmendem Interesse von diesem 27. Januar Kenntnis nimmt, das ist offensichtlich. Die deutsche Gesellschaft, Ju- den und Nichtjuden, muss sich darüber Gedanken machen, wie wichtig ihr dieser Gedenktag ist und auf welchem Wege der 27. Januar im Bewusstsein der Menschen verankert werden kann.
Gut angenommenvon Günther B. Ginzel
Die Zahl der Gedenkveranstaltungen zum 27. Januar dürfte auch in diesem Jahr wieder in die Hunderte gehen. Seit es diesen Gedenktag gibt, hatte ich Gelegenheit, an den unterschiedlichsten Projekten und Veranstaltungen mitzuwirken. Natürlich fehlt es nicht an Versuchen, sich dieses Anlasses zu bemächtigen, um aus dem Leid der Opfer unzulässiges politisches Kapital zu schlagen. Ich habe von einer Stadt gehört, in der sich die Vertreter der Kirchen mit Migrantenverbänden im Vorhof der ehemaligen Synagoge trafen – und hierzu keinen Juden eingeladen hatten. Auf solche Veranstaltungen könnte ich gut verzichten.
Doch andererseits sollten wir uns davon nicht beirren lassen, sondern die Chancen nutzen, das Engagement von Initiativen, Bündnissen und – besonders hervorzuheben – von Schülern und Lehrern zu unterstützen, die keineswegs die jüdischen Opfer verdrängen oder instrumentalisieren. Wie in den Jahren zuvor war ich auch diesmal beeindruckt, wie viele Menschen zu Veranstaltungen kamen, wie viele Jugendliche sich beteiligten, mit welchem Ernst Feierstunden, Ausstellungen, Lesungen, Projekttage, Theaterstücke vorbereitet und durchgeführt wurden. Die Feierstunde etwa in der Kölner Antoniterkirche, die in diesem Jahr ganz im Zeichen des jüdischen Schicksals während und nach der Schoa stand, wurde fast ein Jahr lang von einem Kreis vorbereitet, der von antifaschistischen Gruppen über die jüdischen Gemeinden bis zu den Kirchen reichte.
Besonders will ich meine Erfahrungen mit Schulen hervorheben. Mögen andere Gründe sehen, über Honoratiorenreden und Alibiveranstaltungen zu klagen – ich will von muslimischen Mädchen berichten, von Schülern, deren Familien aus vielen Ländern stammen, die hier in diesem Land keine Geschichte »aufzuarbeiten« haben, und dennoch intensiv den Schicksalen jüdischer Kinder in ihrer Stadt nachgegangen sind.
Ich war beeindruckt, mit welchem Ernst 14- und 16-jährige Schüler und Schülerinnen nach Formen suchten, mit denen die Erinnerung an die Vertriebenen und Ermordeten bewahrt werden kann. Und es ist bemerkenswert, dass es tatsächlich gelingt, an einem nasskalten Sonntagnachmittag eine große Zahl von Schülern zu motivieren (zum Beispiel in der Evangelischen Stadtkirche von Solingen), an solch einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Was auf vielen Gebieten nicht gelingt: Am 27. Januar bleiben die Alten nicht unter sich.
Und noch aus einem anderen Grund bin ich für diesen »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« dankbar: Er ist allen Opfern gewidmet. Gleicht die sonst gepflegte Einengung auf die Schoa nicht einer Verharmlosung des Dritten Reiches und seiner Verbrechen? Natürlich wurde keine andere Gruppe so »total« verfolgt wie die jüdische, doch Millionen Nichtjuden haben ebenfalls in den Konzentrationslagern gelitten. Ist es nicht auch eine jüdische Aufgabe, sich ihrer zu erinnern? Ich jedenfalls möchte auch der russischen Soldaten gedenken, an denen man in Auschwitz das Zyklon B getestet hatte, der politisch Verfolgten – und ich möchte mithelfen, dass diejenigen nicht vergessen werden, die damals Verfolgten halfen, als fast alle wegsahen.
Der Opfer an einem solchen Tag gedenken, heißt sicher auch, sich die Begeisterung in Erinnerung zu rufen, die Hitler auslöste. Es ist richtig, in diesen Tagen an die Mittäterschaft der Reichsbahn zu erinnern. Da wären noch viele zu nennen.
Bei allen Veranstaltungen, die ich erlebt habe, wurde stets auch der Bogen in die Gegenwart geschlagen: Antisemitismus und Antizionismus von heute werden angeprangert, rechtsextreme Umtriebe nicht nur beklagt, sondern überlegt, wie sich dagegen zu wehren ist.
Gerade in Veranstaltungen mit Jugendlichen ist es zwangsläufig, dass auch über die Gegenwart gesprochen wird, nachgefragt wird, wie es um die so gern zitierten Konsequenzen steht, ob tatsächlich die Zivilcourage zugenommen hat.
In einem jedenfalls stimme ich gern den Kritikern zu: Nur Gedenken, um dann mit leichterem Gewissen das Thema abzuhaken, ist verwerflich. Und es reicht auch nicht, ausschließlich ein Totengedenken abzuhalten (so wichtig dies ist), bei dem dann alle wieder betroffen sein können. Nein, es gilt zu verhindern, dass das »Nie wieder« zur pathetischen Metapher verkommt.
Der 27. Januar bietet hierzu vielfältige Möglichkeiten. Und weil er nun einmal ein offizieller Gedenktag ist, eröffnet er – zum Beispiel engagierten Lehrern und ihren Schülern – ein breites Betätigungsfeld.