Wir kennen Else Lasker-Schüler heutzutage eher als eruptive Dichterin, als Autorin von einigem Sentiment, mithin als Weib. Als politische Schriftstellerin dagegen ist sie weithin unbekannt.
Das Bild ist schief und falsch, was Lasker-Schülers Zeitgenossen durchaus wuss-ten. Als die hochbetagte Dichterin im Juli 1943 in Haifa ihr Stück IchundIch öffentlich vortrug, schrieb Franz Goldstein im Aufbau: »In tollem Wirbel werden die Gestalten aus dem Faust sowie Goethe persönlich durcheinandergeweht mit den Nazi-Führern Hitler, Göring, Goebbels und Hess, während von einer Loge aus Max Reinhardt, die Ritz-Brothers, die Dichterin und ein Jerusalemer Kritiker commedia dell’arte-haft teilnehmen. Es ist ein Teufelsspuk, zuweilen von groteskem Humor, jedoch mit Passagen von visionärer Kraft und dichterischer Magie, eine Art surrealer Offenbach.« Der begeisterte Kritiker rechnete mit dem baldigen Erscheinen des Stückes.
Doch IchundIch erschien zu Lebzeiten der Dichterin nicht und ist erst jetzt in einer Lesefassung zugänglich. Dabei zeigt sich Lasker-Schüler in ihrem erstmals 1941 öffentlich vorgestellten Stück als eminent politische Autorin. Sie lässt die Nazis mit Mephisto verhandeln, sie wollen Petroleum für ihren Krieg von ihm kaufen. Zunächst zeigt sich der Teufel angetan, bald aber wird ihm das Nazi-Pack zuwider. Am Ende schließlich verbündet der Fürst der Finsternis sich sogar mit seinem Rivalen Gott, um die Nazis in Höllenlava untergehen zu lassen. Noch im Untergang schreien sie – die Anführer ebenso wie die einfachen Chargen – »Heil«. Auch Hitler stirbt: »Es folgt ein unerlöster Tod dem Antichrist und Antijud.« Faust wie-derum, der als verkörperter deutscher Geist die Nazis verabscheut, ist hin- und hergerissen angesichts dieses Bildes, sieht er doch in den Hitlerleuten weiterhin Deutsche. »Ihr gerechter Untergang tut seinem deutschen Herzen weh«, kommentiert der Teufel bitter.
Lasker-Schüler schont sich dabei selbst nicht. Auch sie ist, wie so viele assimilierte deutsche Juden ihrer Zeit, gespalten in die Goethedeutsche und die Nazihasserin. Am Ende des Stückes muss sie selbst sterben, »ohne Geistlichkeit, Raf, Scheik, Pastor«. Dennoch stellt sich der Dichterin – und dem Publikum – die letzte, angesichts des Weltkriegs und der Schoa so existenziell gewordene Frage: »Glaubst du an Gott?«. Else Lasker-Schüler hat, mit der Gretchenfrage endend, eine Antwort gegeben auf die unter bildungsbürgerlichen Emigranten so oft gestellte Frage, wie sich wohl der deutsche Großdichter Goethe im Nazireich verhalten hätte. Und sie zeigt in ihrem Stück das, was sie selbst nicht mehr erleben durfte (sie starb im Januar 1945) – den Untergang des Dritten Reiches und den Tod des »Führers«.
Von dem Text hat sich nur eine Typo-skriptfassung erhalten – die, aus der Lasker-Schüler vermutlich 1943 las –, alle anderen Versionen sind verloren gegangen. Doch das ist leider nicht der eigentliche Grund, warum das Stück erst jetzt in einer Lesefassung allgemein zugänglich gemacht worden ist. Bislang war es lediglich in der historisch-kritischen Ausgabe in Gänze zugänglich, sonst wurde Ichund-Ich jahrzehntelang nur verstümmelt dargeboten. Das idealisierte und zugleich belastende Bild von der sentimentbeladenen Dichterin Lasker-Schüler, das sich ihre früheren Herausgeber gemacht hatten, erlaubte ihnen nicht zu glauben, dass sich die Poetin in diesem letzten Stück so aktuell der Politik zugewandt haben könnte. Wie der junge Schriftsteller Kevin Vennemann in seinem kenntnisreichen, leider arg knappen Nachwort nachweist, war es diese Lesart, die die Sachwalter des Lasker-Schülerschen Erbes sogar glauben ließen, das Stück sei eine Art Ausreißer, entstanden aus altersbedingter Verwirrung. Ein groteskes literarisches Fehlurteil. Die jetzt vorliegende Lesefassung von IchundIch, die Vennemann gemeinsam mit Karl Jürgen Skrodzki erstellt hat, gibt uns Lesern endlich die Gelegenheit, Else Lasker-Schüler als das wahrzunehmen, was sie auch war – eine intervenierende Intellektuelle, die sich nicht im Dichterturm einschließen lassen wollte. Jörg Sundermeier
Else Lasker-Schüler: »IchundIch«. Hrsg. v. Karl Jürgen Skrodzki und Kevin Vennemann, Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Frankfurt/M. 2010, 108 S., 18 €
Drama