von Wladimir Struminski
Dr. Jan Benes schwebt in Lebensgefahr. Der tschechische Wissenschaftler ist in den Westen übergelaufen, wurde aber von seinen Verfolgern schwer verletzt. Eine Kugel drang in sein Gehirn. Als Folge hat sich dort ein Blutgerinnsel gebildet, das sein Leben gefährdet, aber nicht auf konventionelle Weise entfernt werden kann. Da wird ein U-Boot samt Besatzung auf mikroskopische Größe verkleinert und in die Blutbahn des Patienten injiziert. Unter atemberaubenden Schwierigkeiten dringt das Gefährt ins Gehirn des Kranken vor und zerstört den Thrombus. Anschließend retten sich die Minimenschen durch Benes’ Sehnerv ins Auge und werden mit einer Träne ins Freie gespült. Nicht einen Augenblick zu früh: Die Zeit, in der die Verkleinerung wirksam war, eine Stunde, ist nämlich abgelaufen. Deshalb wachsen die unerschrockenen Abenteurer wieder auf Normalgröße.
Wer diese fantastische Reise nacherleben will, kann sich den gleichnamigen Film leihen und in der Ruhe seines Wohnzimmers zu Gemüte führen. Auch wenn der Streifen bereits vier Jahrzehnte alt ist, hat er nichts von seinem Reiz verloren. Nicht umsonst ist er zu einem der berühmtesten Science-Fiction-Filme aller Zeiten geworden. Und nicht umsonst haben sich Wissenschaftler rund um den Globus oft gewünscht, ein Gefährt für Reisen durch den menschlichen Körper wäre keine Fantasie, sondern Wirklichkeit.
Jetzt ist es soweit. Israelische Forscher haben einen Mikroroboter geschaffen, der sich im Inneren des menschlichen Körpers bewegen kann. Der im Labor für Medizinrobotik des Technion-Instituts in Haifa in Zusammenarbeit mit dem Judäa-und-Samaria-College in Ariel entwickelte Zylinder ist vier Millimeter lang und hat einen Durchmesser von einem Millimeter. Allerdings, so Mitentwickler und Technion-Forscher Oded Salomon, lässt sich »ViRob«, so die offizielle Bezeichnung, auch in viel kleineren Abmessungen bauen. Der Apparat hat näm- lich keinen eingebauten Eigenantrieb. Das erleichtert die Miniaturisierung. Für die Fortbewegung sorgt ein äußeres Magnetfeld. Zudem hat das Forscherteam – Labordirektor Mosche Shoham, Nir Shvalb und Salomon – den Roboter mit kleinen flexiblen Armen ausgestattet. Mit ihnen kann sich das Gerät an die Wände der flüssigkeitsgefüllten Röhre klemmen und auch gegen den Strom krabbeln. Es ist unter anderem in der Blutbahn, in der Rückenmarks- flüssigkeit und in den Harnwegen einsetzbar.
In wissenschaftlicher Hinsicht, erklärt Salomon, ist der Roboter eine Fortentwicklung bestehender Technologie und keine bahnbrechende Entdeckung. »Es war eben ein Einfall«, sagt der 35-jährige Ingenieur der Jüdischen Allgemeinen. Ein Einfall, wohlgemerkt, der weltweit wie eine Bombe eingeschlagen hat. Mit dem neuem Kleinstapparat wird nämlich die gezielte Beförderung von Nutzlasten innerhalb des menschlichen Körpers grundsätzlich möglich. Das eröffnet der Medizin neue Horizonte. Ein potenzielles Einsatzgebiet ist die Brachytherapie (griechisch: Heilung aus der Nähe). Hierbei wird eine Strahlenquelle in unmittelbarer Nähe der zu behandelnden Stelle im Körper des Kranken angebracht. Die Methode, die Begleitschäden der Strahlung zu minimieren sucht, ist hauptsächlich bei Krebserkrankungen relevant, insbesondere bei Hautkrebs, Prostatakarzinom oder Brustkrebs. Sie kann aber auch bei Herzerkrankungen angewandt werden. Mit Hilfe von ViRob, der radioaktive Ladungen an mit herkömmlicher Technik schwer erreichbare Körperstellen transportieren kann, lassen sich die Einsatzgebiete der Brachytherapie möglicherweise wesentlich erweitern.
In anderen Fällen wird der medizinische Nutzen von der Entwicklung passenden Zubehörs abhängen, etwa in der Diagnostik. Je kleiner die Kameras und Sen- der werden, die an dem Roboter angebracht werden können, in umso mehr Gebiete des menschlichen Körpers kann dieser eindringen, um ein präzises Krank- heitsbild zu liefern. Ähnliches gilt für die Mikrochirurgie, bei der der Roboter als Plattform für kleinste chirurgische Instrumente dienen würde. Mit diesen könnten beispielsweise diffizile Eingriffe an der Wirbelsäule vorgenommen werden.
Der Weg zum Einsatz im menschlichen Körper ist noch recht weit. Gegenwärtig hat sich ViRob in künstlichen, flüssigkeitsgefüllten Röhren und in tierischen Körperteilen bewährt. Versuche an lebenden Tieren stehen aber noch aus, von klinischen Tests an Menschen ganz zu schweigen. Die Forscher selbst glauben, dass die ersten Heilmaßnahmen an Menschen frühestens in fünf bis sechs Jahren durchgeführt werden können. Gegenwärtig lotet das Forscherteam bei Beratungen mit Medizinern eine breite Palette potenzieller Anwendungsmöglichkeiten aus. Damit sollen die Weichen für weitere Forschungen gestellt werden. Allerdings gilt es, nicht nur neue technologische Erkenntnisse, sondern auch Partner für die künftige kommerzielle Nutzung der Erfindung zu gewinnen. Zu diesem Zweck führen die drei Wissenschaftler Gespräche mit einer Reihe von Medi- zinunternehmen und suchen nach Möglichkeiten, eine eigene Start-up-Firma zu gründen – ein im israelischen Hightech-Sektor mit seinen über 2.000 Start-ups durchaus üblicher Weg. Auch die Anbindung an strategische Investoren wird erwogen. In jedem Fall kommt auf die Wissenschaftler viel Arbeit zu. Dennoch plant Salomon, eine empfindliche Bildungslücke zu schließen: Falls die Zeit reicht, will er sich »Die fantastische Reise« ansehen. Bisher hat er von dem Film nur gehört.