von Julia Anspach
»Komm mit offenen Augen, offenem Geist, mit Phantasie und Toleranz und laß den Zauber wirken!« So lädt das 23. Internationale Filmfestival Jerusalem ein, das am 6. Juli mit der Verfilmung von David Grossmanns Erfolgsroman Someone to run with eröffnet, der Geschichte von zwei Jerusalemer Jugendlichen, die zu Hause abgehauen sind und die dunklen Seiten der heiligen Stadt kennenlernen. Bis zum 15. Juli zeigt das Festival Spiel-, Dokumentar-, Kurz- und Animationsfilme aus aller Welt, vor allem aber aus dem eigenen Land. Israel präsentiert sich als Kino-Nation und erstaunt nicht nur durch die Menge der in diesem kleinen Land produzierten Filme, sondern auch durch deren inhaltliche Vielfalt.
Ein Filmfestival in Jerusalem kommt natürlich nicht um Politik herum. Hothouse porträtiert palästinensische »Sicherheitshäftlinge« in israelischen Gefängnissen. Die Folgen der israelischen Sperrmauer für die Palästinenser thematisieren die Dokumentationen Fence, Wall, Border sowie Star 9 Hotel und Bil’in Habibti. Bil’in Habibti, das Porträt eines arabischen Dorfes, das durch die Sperranlage einen Teil seines Territoriums verloren hat, sorgte schon im Vorfeld für Kontroversen. Kritisch mit der israelischen Politik gehen viele Filme um. Die israelisch-palästinensische Koproduktion Stories from the Middle East dokumentiert die Lage der Araber in Israel, der Westbank und in Gasa. October’s Cry rekonstruiert die Ereignisse vom Oktober 2000, als 13 israelische Araber bei Demonstrationen getötet wurden. The State of Israel vs. Tali Fahima porträtiert eine junge Israelin, die wegen Unterstützung eines polizeilich gesuchten Palästinenserführers ins Gefängnis kam. Forgiveness ist die Geschichte eines jungen amerikanischen Juden, der in der israelischen Armee dient, einen Palästinenser erschießt und darüber verrückt wird. Can you hear me zeigt israelische und palästinensische Frauen, die sich gemeinsam für Frieden engagieren. Die israelische Seite ins Zentrum stellen drei Filme: Behold, there came a great Wind zeigt drei Siedler, die im August vergangenen Jahres den Gasastreifen verlassen mußten; Strawberry Fields erzählt die Räumung aus der Perspektive einer Erdbeere. States of Unbelonging geht den Spuren einer israelischen Familie nach, die 2002 Opfer eines Terroranschlags wurde. Und in Counter Point treffen Opfer von beiden Seiten aufeinander.
So großen Raum die Politik einnimmt: sie dominiert nicht. Produktionen über den Alltag in all seinen Facetten machen das Gros der Beiträge auf dem Festival aus. Bei den Spielfilmen reicht das Repertoire von Komödien wie Mortgage und Dress for the Wedding über die Kinderfilme Little Heroes und Ringo & Taher bis zu dem Episodenfilm Empathy. Die Dokumentarsparte zeigt legale Neueinwanderer (Hebrew lesson), illegale Gastarbeiter (Paper Dolls) und Fußballspieler (Those who dream). In Nadias Friends verfolgt Hanoch Zeevi die Lebenswege früherer Klassenkameraden. Vom Leben der Uultraorthodoxen berichtenLingua Franca und Yoel, Israel & the Pashkavils. New Jews dokumentiert den erstarkenden Neo-Mystizismus im Judentum. Den innerparteilichen Kampf um aussichtsreiche Listenplätze für Knessetwahlen beobachtet Race for Power. Portrait zeichnet ein Jahrhundert Kunst in Israel nach. Description of a memory besucht die Schauplätze von Chris Markers Israel-Doku Description of a Struggle (1960) ein halbes Jahrhundert später. In Touch Wood, Dead End, The Film Class und Auditing erzählen Filmemacher vom Filmemachen .
Ein großes Thema ist in diesem Jahr die Familie. In Kululush tyrannisiert eine 90jährige ihre erwachsenen Enkel. Dear Mr. Waldman erzählt, was es heißt, als Kinder von Schoa-Überlebenden in den 60er Jahren aufzuwachsen. Three Sisters ist das Porträt von heute 60 Jahre alten Drillings-schwestern. Miracle ist die Geschichte eines alleinerziehenden Vaters und seines zehnjährigen Sohns. In Utero zeigt eine junge Frau auf der Suche nach dem Vater ihres ungeborenen Kindes. Vom Ende ihrer Beziehungen berichten Frauen in Bye Bye Love. Was Krankheit für Familien bedeutet, thematsieren drei Produktionen: Tied Hands zeigt eine Mutter, die für ihren schwerkranken Sohn Marihuana zur Schmerzlinderung besorgen will; in Sweet Mud ist die Mutter eines Barmizwa-Jungen psychisch krank; Things behind the sun erzählt die Geschichte einer Familie, deren Großvater im Koma liegt.
Und schließlich werfen zwei Filme einen Blick auf Israelvon außen: In dem Spielfilm Emile’s Girlfriend besucht eine Französin ihren Freund in Tel Aviv, in der Dokumentation Là bas setzt sich die belgische Regisseurin Chantal Akerman mit ihrem Judentum und ihrem gebrochenVerhältnis zum jüdischen Staat auseinander.