von Rabbiner Benjamin Jacobs
Im Wochenabschnitt Beschalach erzählt uns die Tora über die endlich gekommene Befreiung des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Sklaverei. Die Stunde hat geschlagen! Endlich hat der Pharao aufgegeben, endlich bewegt sich das Volk Israel aus dem Land fort, in dem es 400 Jahre als Sklaven verbracht hat.
Sie haben schon sehr viele Wunder gesehen und fast den Untergang des mächtigsten Landes jener Zeit erlebt, von Gottes Plagen getroffen. Gott hat das Volk auf dem Weg begleitet. »Und der Ewige zog vor ihnen her des Tages mit einer Wolkensäule, sie des Weges zu leiten, und Nachts mit einer Feuersäule, ihnen zu leuchten, daß sie gehen mochten Tages und Nachts. Es wich nicht die Wolkensäule Tages und die Feuersäule Nachts von dem Volke« (2. Buch Moses 13, 21-22). Was für eine Erfahrung. Wie stark müssen die Menschen sich in ihrem Glauben bestätigt gefühlt haben! Aber etwas ist wieder schief gelaufen.
Es dauerte nicht lange, bis Pharao seine erzwungene Entscheidung, die Sklaven gehen zu lassen, bereute – »da wandte sich das Herz Pharaos und seiner Diener wegen des Volkes und sie sprachen: Was haben wir da getan, daß wir Israel entlassen aus unserem Dienste« (2. Buch Moses 14,5)? Es ist wohl für uns nicht schwer, den Pharao zu verstehen, denn es passiert oft im Leben, daß der Mensch nicht nur seine falsche, sondern bedauerlicherweise genau so oft seine richtigen Entscheidungen bereut und sich wünscht, die Zeit zurückzudrehen. Wieder verfolgt Pharao das arme Volk, das zwischen Wüste und Meer eingesperrt ist.
Als die Israeliten die große Armee Pharaos erblickten, verschwanden plötzlich die Gottessäulen aus ihrer Sicht. Alles was übrig blieb, war Angst. Angst und Verzweiflung. »Und sie sprachen zu Moses: Wohl aus Mangel an Gräbern in Ägypten hast du uns weggeholt, um in der Wüste zu sterben? Was hast du mit uns getan, daß du uns geführt hast aus Ägypten? Ist es nicht das, was wir zu dir geredet: Laß uns und wir wollen Ägypten dienen« (2. Buch Moses 14, 11-12)?
Wieder steht Moses allein, auf der einen Seite die Ägypter, auf der anderen sein eigenes Volk. Und wieder kann er nur seinem Gott vertrauen, der ihm versprochen hat, das Volk in das Land zu führen, welches Er ihren Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob verheißen hat. Noch ein Mal wird sein Vertrauen belohnt, und wieder geschieht ein Wunder. Moses streckt seine Hand aus, und der Ewige führt das Meer hinweg und macht es zu trockenem Boden, und die Wasser wurden gespalten. »Die Kinder Israel gingen durch das Meer im Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zu Linken« (2. Buch Moses 14,22).
Für die Armee Pharaos ist das wortwörtlich der Untergang. Als sie in der Mitte des Meeres sind, streckt Moses wieder seine Hand und die Wasser kehren zurück »und bedeckten die Wagen und die Reiter der ganzen Macht Pharaos. (...) Es blieb von ihnen nicht Einer übrig« (2. Buch Moses 14,28). Die Israeliten haben das alles schon vom anderen Ufer aus gesehen. Wut und Verzweiflung verwandeln sich mit einem Mal in eine gewaltige Euphorie. Sie singen und tanzen und loben und danken Gott, den sie noch vor wenigen Stunden völlig vergessen hatten. Im Kapitel 15 finden wir eines der besten und schönsten Beispiele für biblische Poesie. Es ist das Lied, das die Israeliten damals sangen.
Trotzdem haben viele Rabbiner mit diesem wunderschönen Lied oft Schwierigkeiten gehabt. Wäre es nicht richtiger, Gott, der immer treu zu seinem Volk gewesen war, der es begleitet und schon so viele Wunder und Zeichen vor ihren Augen getan hat, im Angesicht der Gefahr zu loben? Gehört das Loblied nicht eher zum ersten Ufer? Und der Midrasch erzählt uns über die Mißgunst Gottes: »Ich habe meine Schöpfung umgebracht, und ihr singt mir ein Loblied?« Auch wenn die Befreiung viele Opfer gefordert hat, gab es wahrscheinlich doch keinen Grund, sich über das Unglück der anderen Menschen zu freuen, auch wenn es Feinde waren.
Das Lied wurde am falschen Ort und zu falscher Zeit gesungen. Die Frage bleibt: Wie konnten die Israeliten nach all dem, was sie bis dahin mit ihrem Gott erlebt hatten, immer noch so wenig Vertrauen zu ihm haben? Vielleicht nahmen sie alle seine Wunder gar nicht wahr? Genauso in unserem Leben: Wir übersehen viel zu oft seine Zeichen und wunderbaren Taten, die uns, wie es in unserer Amida steht, morgens, abends und mittags begleiten.
Es ist nicht schwer, die Israeliten zu verstehen. Wie sollten sie denn keine Angst haben, wenn sie nur Moses sahen und nicht Gott selbst hinter ihm? Der Wochenabschnitt Beschalach lehrt uns, unsere Augen zu öffnen. Dann verwandelt sich diese Welt von einem zufälligen Zusammenkommen verschiedener Ereignisse in einen großartig ausgeführten Plan: die Reise in unser gelobtes Land, die in jedem Moment von Gottes Zeichen und Wundern erfüllt ist.
Beschalach: 2. Buch Moses 13,17 - 17,16