von Rabbinerin Elisa Klapheck
Die Parascha »Tezawe« widmet sich minutiös den Amtsgewändern des Hohepriesters. Sie nennt dabei einen mysteriösen Gegenstand, der hart an der Grenze zum Orakel rührt: das »Urim weTumim« (2. Buch Moses 28,30, auch 3. Buch Moses 8,8). »Urim« enthält das hebräische Wort »Licht«, »Tumim« steht für »Vollkommenheit«.
Mit dem »Urim weTumim« rangen bereits die Weisen der rabbinischen Literatur. Dem mittelalterlichen Kommentator Raschi (1040-1105) zufolge soll es eine Schrift mit den göttlichen Namen gewesen sein, die sich zur Zeit des Ersten Tempels im Brustschild des Hohepriesters befunden habe. Nachmanides (1194-1270) meinte, dass es nicht von den Israeliten selbst angefertigt worden sei, sondern als ein Geheimnis himmlischen Ursprungs allein Mosche übermittelt wurde. Bei schwierigen Entscheidungen, vor allem im Hinblick auf Krieg, konnte es dem Befragenden eine Antwort geben. So soll zum Bei- spiel König David das »Urim weTumim« befragt haben. (1. Samuel 23).
Vertrauten die Israeliten einem Orakel? Schlich sich hier ein heidnischer Aberglaube in den Monotheismus Israels ein?
Die Rabbinen wiesen diese Vorstellung scharf zurück. Ihre Ausführungen zum »Urim weTumim« entwarfen eine interessante Theorie von Offenbarung. Nachmanides zufolge handelte es sich bei der Befragung des »Urim weTumim« um eine Meditation. Der Fragende konzentrierte sich dabei auf die göttlichen Namen. Wenn »heiliger Geist« auf ihm ruhte, konnte es geschehen, dass einzelne Buchstaben in den göttlichen Namen aufleuchteten. Die mögliche Antwort musste sich der Fragende aus den Buchstaben jedoch selbst zusammensetzen.
Nachmanides bezog sich auf Maimonides’ zwölf Stufen der Prophetie (More Newuchim, 2. Buch, Kapitel 45). Zu den beiden untersten Stufen seien, so Maimonides, alle Menschen befähigt. Auf ihnen werde man jedoch noch nicht zum Propheten. Maimonides bezeichnete die zweite Stufe als den »heiligen Geist«. Dem Menschen werde gewahr, dass ihm etwas ins Herz gedrungen und eine andere Kraft in ihm entstanden sei, die ihn antreibe zu reden. Hierzu gehöre das »Urim weTumim« ebenso wie der Traum, der wahre Gedanken zur Kenntnis bringe.
Maimonides, sonst ganz auf Verstand und Vernunft ausgerichtet, maß demnach dem Irrationalen eine fundamentale prophetische Bedeutung bei. Beides, die Meditation über das »Urim weTumim« wie der Traum lösen die Kontrolle des Bewusstseins auf und lassen das Unbewusste sprechen. Anders als bei Visionen, bei denen es zunächst nur um Gesichte geht, vernehme man aus dem »Urim weTumim« und dem Traum Worte. Sie seien, so Maimonides, jedoch noch keine Prophetie, sondern geben nur den Anstoß dazu. Echte Prophetie entstehe erst auf den nächsthöheren Stufen – mittels eines Erkenntnisprozesses, bei dem der Prophet aus dem Vernommenen tiefere Einsichten in die Beziehung zwischen Gott und Mensch gewinne und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ableite.
Ähnlich wie die Mesusa oder die Tefillin, die selbst keine eigene magische Wirkungskraft besitzen, sondern nur eine äußere Erinnerungsstütze bieten, dient das »Urim weTumim« als Konzentrationshilfe, um die Intuition in vernunftgeleitete Erkenntnis zu übertragen.
Manche der Großen scheiterten allerdings schon auf Maimonides’ zweiter Stufe. Der biblische Priester Ewjatar soll sein Amt niedergelegt haben, weil es ihm nicht gelang, eine Antwort vom »Urim weTumim« zu erhalten (Sota 48b).
Die Rabbinen bezweifelten gar die Verlässlichkeit des »Urim weTumim« und nannten Fälle, bei denen die »Entscheidung« nicht eingetroffen sei (Joma 73b). Überdies stellte sich ihnen die Frage, inwieweit sich der jüdische Monotheismus auf äußere Gegenstände fixieren dürfe und so Gefahr laufe, in Fetischismus und Götzendienst abzugleiten.
Tatsächlich steht die Parascha »Tezawe« im Zeichen von Äußerlichkeiten mit religiöser Eigenwirkung. Die Bekleidung des Hohepriesters wird nicht nur als Ausdruck seiner Autorität und Amtswürde beschrieben, sondern als Medium, um religiöse Prozesse zu ermöglichen. »Wie die Opfer Sühne schaffen, ebenso schaffen auch die priesterlichen Gewänder Sühne«, sagt der Talmud und zählt im Einzelnen auf, welcher Teil der priesterlichen Gewänder welches Vergehen sühnt (Sewachim 88b). Aber, so schränkte Raschi ein, der Priester und seine »heiligen Gewänder« (2. Buch Moses 28,2) sühnen nicht die Schuld selbst. Der Priester »sühnt nur soweit, dass er das Opfer brauchbar macht« (Raschi zu 2. Buch Moses 36,38). Das heißt, er ermöglicht lediglich den religiösen Prozess des von sündhaften Gedanken und Verfehlungen verstrickten Menschen.
Die Rabbinen konnten unmöglich in dem in »heilige Gewänder« (2. Buch Moses 28,2) gehüllten, von Kopf bis Fuß mit Symbolen und Inschriften versehenen Priester einen religiösen Zweck an sich sehen. Wer sich allein in die visuellen Symbole versenkt und in ihnen selbst die Gottheit sieht, verfällt dem Götzendienst. Niemals kann im Judentum ein Mensch oder ein Gegenstand Gott repräsentieren, wohl aber sich zum Medium eignen. Die eigentliche Erkenntnisarbeit müssen die Menschen jedoch selbst leisten.
Die Autorin ist Rabbinerin der Gemeinde Beit Ha’Chidush in Amsterdam und des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.