Demonstranten tragen auf Protesten gegen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung nachempfundene gelbe »Judensterne« mit der Aufschrift »ungeimpft«. Oder: Eine Frau im Supermarkt hat eine Kette mit einem Davidstern um den Hals. Ein anderer Kunde sagt zu seiner Begleitung: »Die waren das mit dem Virus« – gemeint sind Juden. Das sind nur einige Beispiele für antisemitische Auswüchse in der Covid-19-Pandemie.
Zwischen 17. März 2020 und 17. März 2021 erfasste der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) 561 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu Corona. Bei 57,7 Prozent sei es um antisemitische Äußerungen auf Demos und Versammlungen gegangen. 22,8 Prozent der Vorfälle seien online passiert.
zahlen Diese Zahlen sind nachzulesen in der Studie »Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie. Das Beispiel QAnon«, die am Montag vorgestellt wurde und auch Tipps zum Umgang mit Verschwörungsmythen gibt. Erstellt hatte sie RIAS für das American Jewish Committee (AJC) Berlin Ramer Institute.
»Historisch waren politische und ökonomische Krisen stets von einer Zunahme des Antisemitismus begleitet«, betont das AJC. Und es verwies darauf, dass es zuletzt Höchststände bei den erfassten antisemitisch motivierten Straftaten gegeben habe, deren Zahl 2020 um 15,7 Prozent auf 2351 stieg.
So warnt denn auch das AJC davor, Teilnehmer von Corona-Demonstrationen und die Proteste selbst zu unterschätzen. Der Direktor des AJC Berlin, Remko Leemhuis, schreibt in der Studie: »Zweifellos waren einige der auf diesen Demonstrationen geäußerten Verschwörungsmythen derart grotesk, dass sie bei der Betrachterin und dem Betrachter eher Schmunzeln als Sorge ausgelöst haben.« Allerdings hätten auch die Attentäter von Halle und Hanau solchen Erzählungen, die schon vor der Pandemie im Internet verbreitet wurden, angehangen.
»Zweifellos waren einige der auf diesen Demonstrationen geäußerten Verschwörungsmythen derart grotesk, dass sie bei der Betrachterin und dem Betrachter eher Schmunzeln als Sorge ausgelöst haben.«
Remko Leemhuis
Dass an Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen neben Rechtsextremen auch Menschen jenseits dieses Spektrums teilgenommen und sich »am offensichtlichen Antisemitismus nicht gestört oder diesen sogar geteilt« hätten, unterstreiche, dass Judenfeindschaft ein Problem der gesamten Gesellschaft sei, schreibt Leemhuis.
QAnon Eine vermeintliche Elite, die im Verborgenen agiere, ist ein Kern des aus den USA stammenden Verschwörungsmythos QAnon, den die Studie genauer unter die Lupe nimmt – und der auch in Deutschland Fuß gefasst hat: »Unter dem Dach von QAnon werden teils jahrhundertealte antisemitische und rassistische Denkmuster mit aktueller Weltpolitik zusammengestrickt, was es Menschen aus unterschiedlichen Gruppen erlaubt, sich dieser Bewegung anzuschließen und zusätzliche Elemente, wie beispielsweise Impfmythen, zu inkorporieren.«
Leemhuis forderte bei der Vorstellung der Untersuchung, dass Sicherheitsbehörden stärker grenzüberschreitend tätig werden müssten. Ähnlich äußerte sich Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Es brauche zudem eine breitere Aufklärung über Mechanismen und Gefahren. Und: »Wir alle müssen die Perspektive der Betroffenen viel stärker in den Blick nehmen.« Pau regte an, die Studie auch in der Aus- und Fortbildung von Polizisten, Juristen und Pädagogen zu nutzen.
Der religionspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Benjamin Strasser, betonte, dass jeder antisemitischen Erzählungen widersprechen müsse, »wo es nur geht«. Im Vorfeld hatte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, der Funke-Mediengruppe gesagt, er sei mit Kommunen im Gespräch, damit dort eine bessere Handhabe durch bestimmte Auflagen geschaffen werde, um etwa gegen das Tragen von »Judensternen« vorzugehen.
»Brunnenvergifter« Der Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland nannte »QAnon und Co.« die »Brunnenvergifter unserer Gesellschaft und eines friedlichen Zusammenlebens«. Politik und Behörden dürften »diesem Treiben nicht länger zaghaft zuschauen, sondern müssen diesen zerstörerischen Kräften den Nährboden entziehen«.
In den vergangenen Tagen hatten sich bereits mehrere Experten zum Thema Verschwörungsmythen geäußert – unter anderem nach erneuten Demos am ersten Augustwochenende. So warnte der Beauftragte gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, vor Gewalt und Terrorgefahr durch Verschwörungsgläubige im Umfeld der Proteste. Und mahnte, dass Bildung allein nicht vor Mythen und Antisemitismus schütze: »Man kann Professor- und Doktortitel und Ingenieurstitel haben, noch und nöcher.«