von Georg Armbrüster und Steve Hochstadt
»Unsere jüdischen Freunde sind zu uns zurückgekehrt, nicht um hier inmitten einer verarmten, verängstigten, bedrückten Bevölkerung nun selbst ein sorgenfreies Leben zu führen, sondern um mit uns unsere Nöte, unseren Kummer, unsere Sorgen, unseren Hunger zu teilen. Dafür seien sie herzlich bedankt.« Mit diesen Worten begrüßte der Stellvertretende Oberbürgermeister Groß-Berlins Ferdinand Friedensburg am 21. August 1947 in einem Berliner Aufnahmelager nahezu 300 ehemalige NS-Flüchtlinge. Nach langjährigem Exil in Shanghai hatten sie sich zur Rückkehr an die Spree entschlossen. In Art und Umfang gab es in der deutschen Nachkriegsgeschichte kein vergleichbares Ereignis.
Nach dem November-Pogrom 1938 hatte sich Shanghai zu einem der wichtigsten Fluchtorte deutscher Juden entwickelt. Als praktisch weltweit keine Aussicht mehr bestand, eine Zuflucht zu finden, war es einzig die »offene Stadt« am Ostchinesischen Meer, die kein offizielles Erlaubnisdokument für eine Einreise verlangte. Dass im Handbuch für die jüdische Auswanderung vor einer Emigration dorthin ausdrücklich gewarnt wurde, spielte angesichts der akuten Bedrohung keine Rolle mehr. In aller Eile wurden die nötigen Ausreisepapiere bei den deutschen Behörden zusammengetragen. Nicht wenige NS-Verfolgte entkamen mit Hilfe von Angehörigen unmittelbar aus der KZ-Haft in eine fremde Welt.
Die meisten Flüchtlinge erreichten die chinesische Metropole mit italienischen Schifffahrtslinien über Triest, Genua oder Venedig. Allerdings war die vierwöchige Schiffspassage nicht nur extrem teuer, sondern aufgrund der hohen Nachfrage bald nur noch unter größten Schwierigkeiten zu erhalten. Gleichwohl gelangten nach vorsichtigen Schätzungen bis Ende 1941 über 15.000 Flüchtlinge aus Mitteleuropa nach Shanghai. Ein großer Teil hatte zuletzt in Berlin oder Wien gelebt. Anders als in den klassischen Exilländern finden sich unter ihnen kaum große Namen aus Kunst, Politik oder Wissenschaft. Nach Shanghai retteten sich vor allem die kleinen Leute.
Westliche Geschäftsleute in Shanghai reagierten schon bald ablehnend auf die mittellosen Flüchtlinge und forderten ihre Regierungen auf, den Zustrom zu stoppen. Selbst die alteingesessenen jüdischen Gemeinden Shanghais signalisierten, dass ihre Unterstützungsmöglichkeiten begrenzt seien. So wurden ab Spätsommer 1939 durch das japanische Militär erstmals restriktive Einreisebestimmungen erlassen.
Bei ihrem Eintreffen in Shanghai wurden die Flüchtlinge von sefardischen Juden versorgt. Eine Suppenküche in der Beth-Aharon-Synagoge bekochte dreimal täglich 600 Flüchtlinge. Bald kümmerten sich auch eine Vielzahl örtlicher Hilfsvereine sowie das »American Jewish Joint Distribution Committee« und die »Hebrew Immigrant Aid Society« um die Flüchtlinge. Man richtete Kreditfonds für Existenzgründer, Ausbildungszentren und Werkstätten ein. In leeren Gebäuden wurden Heime errichtet, die Tausenden ein notdürftiges Zuhause boten. Die Mehrheit der Flüchtlinge war gezwungen, sich in Hongkew niederzulassen, einem Stadtviertel, das im japanisch-chinesischen Krieg 1937 erheblich zerstört worden war. Angesichts der sprachlichen, kulturellen und klimatischen Besonderheiten des neuen Umfelds bestand kaum Hoffnung, wirklich Fuß zu fassen.
Die Flüchtlinge gründeten die »Juedische Gemeinde«, die von den Shanghaier Behörden als legitime Vertretung der Flüchtlinge aus Deutschland anerkannt wurde. Diese Einheitsgemeinde nahm zahlreiche Funktionen wahr, bis hin zu einer Schlichtungskommission, die Konflikte unter den NS-Flüchtlingen löste. Es gelang, ein umfangreiches soziales und kulturelles Leben zu etablieren. So erschienen mehrere deutschsprachige Zeitungen, es gab Konzerte, Ausstellungen und Theater, die unterschiedlichsten Vereine und Verbände sowie eine jüdische Schule.
Nach dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 besetzte das japanische Militär ganz Shanghai. Die Ausweitung des Pazifikkrieges hatte zur Folge, dass die sefardischen Juden, die in der Regel britische Staatsbürger waren, von den Japanern als »feindliche Ausländer« interniert wurden und ihr Engagement für die Flüchtlinge nicht mehr fortsetzen konnten. Außerdem wurden durch den Krieg die Transferleistungen aus den USA unterbrochen.
Eine weitere Zäsur bedeutete der 18. Februar 1943. An diesem Tag verkündete die japanische Besatzungsbehörde Shanghais die Errichtung einer »Designated Area« in Hongkew für staatenlose Flüchtlinge. De facto betraf diese Ghettoisierung jene jüdischen Flüchtlinge, die 1941 mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatten. Ungefähr 8.000 Menschen mussten nun ihre Wohnungen aufgeben und sich in einem Viertel mit einer Fläche von 1,5 Quadratkilometern niederlassen, in dem bereits über 100.000 Chinesen lebten.
Die Errichtung des Ghettos führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen unter den NS-Flüchtlingen. Den Wenigsten gelang es, ihre zwangsweise verkauften Geschäfte oder Handwerksbetriebe im Ghetto neu zu eröffnen. Um die Designated Area aus beruflichen Gründen oder für einen Arztbesuch verlassen zu können, musste man eine Sondergenehmigung beantragen.
Obwohl sich die Lage mit dem Ende des Krieges und dem Einzug der US-Truppen erheblich verbesserte, blieb den Flüchtlingen ein selbstbestimmtes Ende ihres Exils verwehrt. Für die große Mehrheit gab es zunächst keine Chance, in ihr Wunschland weiterzuwandern. Die westlichen Demokratien hielten an ihrer restriktiven Einwanderungspolitik fest. Eine neue Perspektive eröffnete die Gründung Israels im Mai 1948, wo mehrere Tausend Shanghai-Flüchtlinge eine neue Heimat fanden.
»Spärlich sickern die Berichte über das Berlin nach dem Kriege in unsere chinesische Stadt. Viele glauben und viele zweifeln an dem, was uns aus Briefen und Situationsberichten über Berlin geschildert wird«, schrieb die Shanghaier Zeitung Die Neue Zeit am 13.12.1945. Vor diesem Hintergrund ist die Rückkehraktion vom Sommer 1947 umso erstaunlicher. 650 deutsche und österreichische Flüchtlinge waren am 25. Juli 1947 an Bord des amerikanischen Truppentransporters »Marine Lynx« von Shanghai nach Neapel aufgebrochen. Von dort erfolgte die Weiterreise für die Berliner Passagiere in einem Sonderzug mit 39 Güterwagen. Ihre Aufsehen erregende Ankunft auf dem Görlitzer Bahnhof ist in den Bildern der damaligen Wochenschau eindrucksvoll dokumentiert. Gesichter und Äußerungen der Ankömmlinge lassen die Verunsicherung in einer Stadt, die ihnen fremd geworden war, mehr als erahnen. Und dies zu einer Zeit, da sich die Berliner jüdische Gemeinde in Auflösung befand, da die meisten Schoa-Überlebenden alles daran setzten, Deutschland zu verlassen.
Für diejenigen, die sich für einen Neubeginn in Deutschland entschieden, kam ein Neuanfang in einem Drittland nicht in Betracht. In ihrer Lebensplanung spielten die berufliche Perspektive, die Alterssicherung, die Sprachkenntnisse oder einfach das Bedürfnis nach geordneten Verhältnissen eine vorrangige Rolle. Der Wunsch nach Rückkehr in die einstige Heimat war stärker als alle Vorbehalte gegenüber Deutschland. Bei anderen waren es Heimweh oder Krankheit oder auch der Wille, am politischen Aufbau der befreiten Heimat mitzuwirken, die sie zur Rückkehr bewogen. Der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, gab 1952 an, dass über 500 Flüchtlinge aus Shanghai nach Berlin zurückgekehrt seien und damit nicht unwesentlich zum Fortbestehen der jüdischen Gemeinde beigetragen hätten. Die Rückkehr aus Shanghai ist damit auch ein wichtiges, heute fast vergessenes Kapitel des Neubeginns jüdischen Lebens in Deutschland.
Georg Armbrüster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und Mitherausgeber des Buchs »Exil Shanghai 1938-1947. Jüdisches Leben in der Emigration«. Steve Hochstadt ist Professor für Geschichte am Illinois College (USA). 2007 erschien von ihm »Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China«.