Tradition

Es lebe das neue Leben

von Rabbiner Elieser Segal

Übertriebene Höflichkeit kann tragische Folgen haben. Die Talmudgeschichte von den drei Rabbinern im dritten Jahrhundert, die an einem Bankett zur Feier der Geburt eines Kindes teilnehmen wollten, illustriert diese traurige Tatsache. Denn am Eingang zum Festsaal wollte keiner der Gelehrten als Erster durch die Tür gehen, und jeder beharrte darauf, daß diese Ehre einem der beiden anderen gebühre. Bevor sie sich über die Etikette und die in einem solchen Fall geltenden Anstandsregeln einigen konnten, wurde das unglückselige Kleinkind von einer Katze zerfleischt.
Aus dieser Erzählung können wir eine Menge lernen über die hierarchischen Strukturen der rabbinischen Gesellschaft, über das Naturell von Katzen im alten Babylon und den übersteigerten Wert, der auf formale Höflichkeit gelegt wird. Ich möchte mich aber in meinem Artikel auf einen Nebenaspekt der Geschichte konzentrieren: auf den Anlaß der so unglücklich verlaufenen Feier.
Im Talmud finden sich zwei Versionen dieses Umstands. Entweder war es Schawua HaBen (Woche des Sohnes) oder Yeschua HaBen (Erlösung des Sohnes). Raw Hai Gaon deutete Ersteres als ein Beschneidungsfest, das gewöhnlich am siebten Tag nach der Geburt des Sohnes veranstaltet wird. Den zweiten Ausdruck setzte er mit der Pidjon-HaBen-Zeremonie gleich, die normalerweise durchgeführt wird, wenn das Baby einen Monat alt ist und der Vater seinen Nachwuchs rituell von den Kohanim auslöst. Diese Deutungen wurden von der Mehrzahl späterer Kommentatoren akzeptiert.
Die »Woche des Sohnes« wird in einigen Passagen der rabbinischen Literatur kurz erwähnt, doch erfahren wir wenig darüber, welche Funktion sie hatte. Eine Quelle nimmt sie – neben Verlobung und Hochzeit, Beerdigung und Trauerfeier – in das Verzeichnis all der Feiern auf, die einen wichtigen Lebensabschnitt markierten und den Terminkalender der frommen Einwohner Jerusalems ausfüllten.
Andere Texte stellen fest, daß die römischen Erlasse gegen die Ausübung der jüdischen Religion die Woche des Sohnes oder die Auslösung des Sohnes als verbotene Zeremonien ausdrücklich nennen. Ein liturgisches Gedicht von Eleazar Qallir stellt eine solche Verordnung in eine Reihe mit anderen antijüdischen Gesetzen, die von Antiochus in der Chanukkageschichte erlassen wurden.
Wie die Tossafot erläutert, können diese Überlieferungen zur religiösen Verfolgung das folgende rätselhafte Talmudzitat verstehen helfen: »Das Lärmen der Mühlsteine in Boruni bedeutet: ›Die Woche des Sohnes! Die Woche des Sohnes!’ Das Licht der Lampe in Beror Hayil bedeutet: ›Ein Fest findet statt! Ein Fest findet statt!‹«
Offenbar befolgten die Juden diese religiösen Bräuche getreulich, auch wenn sie dafür aufgrund eines Regierungserlasses bestraft werden konnten. Da die Zeremonien nicht öffentlich bekanntgemacht werden durften, wurden für diesen Zweck Geheimsignale erfunden, die sich auf die Warnung Jeremias bezogen (25:10): »Ich lasse bei ihnen aufhören den Jubelruf und den Freudenruf, den Ruf des Bräutigams und den Ruf der Braut, das Geräusch der Handmühle und das Licht der Lampe.« Raschi meint, daß die Mühlsteine benutzt wurden, um die für die Beschneidung benötigten Arzneimittel zu mahlen.
Wie bereits angemerkt, stimmte die überwiegende Mehrheit der Kommentatoren mit Raw Hai Gaon und Raschi überein, daß sich die talmudische »Woche des Sohnes« auf ein Beschneidungsfest bezog. Eine der wenigen abweichenden Stimmen war Raschis Enkel Rabbi Jacob Tam, der behauptete, die »Auslösung des Sohnes« sei in Wirklichkeit ein gesondertes Fest gewesen, durch das die Eltern für die sichere Geburt und die Gesundheit des Kindes ihre Dankbarkeit zum Ausdruck brachten.
Tatsächlich existiert eine entscheidende Information, die stark gegen die Mehrheitsdeutung spricht. Eine talmudische Tradition, die von den spanischen Kapazitäten Rabbi Isaac Ibn Ghayat (11. Jahrhundert) und Rabbi Moses Nahmanides (13. Jahrhundert) bewahrt wurde, nennt ausdrücklich eine »Woche der Tochter« (Schawua HaBat) neben der Woche des Sohnes. Es ist klar, daß weder das Beschneidungs- noch das Auslösungsritual auf Töchter anwendbar waren. Von daher, scheint es, müssen wir wohl oder übel alternative Erklärungen finden, die beiden Geschlechtern gerecht wird.
Mehrere solche Interpretationen wurden von modernen Gelehrten ins Feld geführt. Einige behaupteten, der Begriff beziehe sich auf eine Namensgebungszere-
monie, die für männliche und weibliche Kinder am Ende der ersten Lebenswoche abgehalten wurde. Andere sahen in diesem antiken Brauch die früheste Quelle für eine im Mittelalter unter den aschkenasischen Juden weitverbreitete Praxis, bei der in einer »Wachnacht« am Bett des eine Woche alten Kindes die ganze Nacht Wache gehalten wurde, um böse Dämonen abzuwehren, die in dieser Nacht besonders gefährlich waren.
Am wahrscheinlichsten scheint es jedoch, daß die Woche der Tochter/des Sohnes Bezug nimmt auf eine siebentägige Festzeit, die sich an die Geburt des Kindes anschließt. Dies würde anderen Festen zum Übergang zwischen Lebensabschnitten entsprechen, die ebenso eingehalten wurden. Daher folgten zum Beispiel nicht nur auf jüdische Hochzeiten und Beerdigungen sieben Tage andauernde gemeinsame Feiern, sondern die Gebete und Segen, die bei diesen Gelegenheiten formu-
liert wurden, waren einander auch sehr ähnlich. Es ist daher vernünftig anzunehmen, daß dasselbe Paradigma für ein weiteres Hauptereignis des Lebens eines Menschens, die Geburt eines Kindes, galt.
Obwohl diese Praxis längst aufgegeben wurde und die Erinnerung daran in unseren Schriften so gut wie gelöscht ist, übt sie immer noch eine starke Anziehungskraft aus.
Unsere Generation, die bei ihrer Suche nach einer authentischen jüdischen Feier zur Geburt einer Tochter so oft Enttäuschungen erlebte, würde eine Wiederbelebung einer »Woche der Tochter« diesem flüchtigen Ziel ein wenig näherbringen.

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