von Frank Ellmers
Dass Zöllner auch freundlich sein können? Als David Gleser vor über acht Jahren zum ersten Mal nach Deutschland einreiste, war er sehr verwundert. »Ein junger Mann und eine junge Frau fragten nach den Papieren, und in zehn Minuten war alles vorbei.« Mit bewegten Gesten schildert der 52-Jährige in der Küche seiner Drei-Zimmer-Wohnung in Dresden diese Begegnung. Damals, im November 1998, verließ David zusammen mit seiner Frau Natalija und seiner Tochter Anna seine alte Heimat Lemberg, um in Deutschland neu anzufangen. Sie kamen mit Tatkraft, Optimismus und Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihre Zelte in der Ukraine hatten sie hinter sich abgebrochen.
Als Ziel sei Dresden in Frage gekommen, denn Glesers Frau wurde 1947 dort geboren. Ihr Vater war zu Kriegsende als Sergeant der Roten Armee in die Stadt gekommen. Ihre Mutter war während des Zweiten Weltkriegs aus der Ukraine von den Deutschen verschleppt worden. Nach der Befreiung kam sie nach Dresden und lernte dort ihren Mann kennen. 1951 ging die Familie zurück in die Ukraine. 47 Jahre später kehrte nun die Tochter mit ihrer Familie an ihren Geburtsort zurück.
Dem Entschluss, nach Deutschland auszuwandern und die Heimat zu verlassen, ging ein sehr schmerzlicher Einschnitt in Davids Leben voraus. In Lemberg hatte er in einem Obst- und Gemüseladen gearbeitet, der zu einer Genossenschaft gehörte. Eines Tages sei die Direktorin zu ihm gekommen und habe gesagt: »Gehen sie nach Israel, hier arbeiten nur Ukrainer«. Das war ein Schock für ihn, von einem Tag auf den anderen war er entlassen und stand ohne Job da. Das war 1996. Und es sollte noch schlimmer kommen. David verlor fast alle Ersparnisse, als quasi über Nacht das Geld in der Ukraine abgewertet wurde. »Da bin ich nach Kiew zur deutschen Botschaft gefahren und habe einen Einreiseantrag nach Deutschland gestellt.«
Bereut hat Gleser diesen Schritt nie. »Zurück? – Auf keinen Fall«, sagt er energisch. Natürlich fährt er zu Besuch nach Lemberg und bringt von dort auch ukrainische Spezialitäten mit, aber bleiben will er in Deutschland. Die erste Station in der Bundesrepublik war ein Durchgangsheim in Meerane bei Chemnitz, später ging es weiter nach Dresden. Dort wohnt der studierte Ökonom inzwischen seit acht Jahren mit seiner Familie im Stadtteil Neustadt, einem Viertel, wo Menschen verschiedener Kulturen zusammenleben: Russen, Türken, Inder, Deutsche – ein buntes Straßenbild. Hier hat Gleser viele Freunde gefunden, auch arabische und kurdische. Mit einigen von ihnen hat er in Dresden schon im Obsthandel zusammengearbeitet. Doch dann wurden seine Rückenschmerzen immer schlimmer, und er musste aufhören.
Der temperamentvolle Mann fühlt sich wohl an seinem neuen Wohnort. Wenn er durch die Straßen des Stadtteils geht, hält er an fast jeder Ecke an, um ein Schwätzchen zu halten. Oft hört man von ihm den Satz »Ich verstehe das«, und der ist nicht nur dahergesagt. David Gleser ist ein offener Mensch, er geht auf andere zu, hat immer ein freundliches, manchmal auch nachdenkliches Wort parat. Er fühlt mit, nimmt Anteil an anderen. Vermutlich hat er auch deshalb so schnell viele Freunde gefunden. Diese Freunde, seine Familie und die Gemeinschaft im Chabad-Lubawitsch-Zentrum sind Glesers Lebensmittelpunkte. In der orthodoxen jüdischen Gemeinde engagiert er sich, geht freitags beten, feiert die jüdischen Feste. Diese Gemeinde bedeutet für ihn Gemeinschaft, eine Gruppe, in der sich jeder um jeden kümmert. Über den Rabbiner der Gemeinde ist Gleser voll des Lobes. »Er hat für mich, für meine jüdische Seele, viel gemacht. Über ihn habe ich zum tiefen jüdischen Glauben gefunden«, sagt er.
David Gleser holt jeden Tag die drei- bis sechsjährigen Kinder der Gemeinde zu Hause ab und fährt sie in den jüdischen Kindergarten. Wenn er von ihnen spricht, leuchten seine Augen. »Diese Kinder sind mein Leben und machen sehr viel Freude. Ich liebe sie und bin für sie ein Freund.«
Fragt man David Gleser, was ihm an Deutschland gefällt, nennt er zuerst die Ordnung. Schon bei seiner Einreise vor acht Jahren war er von der Autobahn begeistert. »Das ist was ganz anderes als zu Hause in der Ukraine, wo die Straßen in einem schlimmen Zustand sind.« Und im Übrigen lebe man in Deutschland sicherer als in der Ukraine. »Es ist viel friedlicher hier als dort.« Sorgen um seine Tochter Anna brauche er sich hier nicht zu machen, meint er. Es gebe Zukunftschancen für die Kinder.
Anna ist mittlerweile 20 Jahre alt. Mit ihrer Tanzgruppe hat sie vor zwei Jahren den ersten Platz bei der »Goldenen Chanukkia« belegt, einem Internationalen Wettbewerb der jüdischen Kunst und Musik. Mit dem Tanzen ist jetzt aber erst einmal Schluss, denn Anna muss fürs Abitur lernen. Sie träumt davon, eines Tages als Eventmanagerin zu arbeiten, vielleicht in der Ukraine oder in Moskau.
Auch Davids Frau Natalija hat beruflich mit der alten Heimat zu tun: Sie arbeitet gelegentlich einige Stunden im Deutsch-Russischen Kulturinstitut in Dresden. Mit ihr möchte der 52-Jährige vor allem reisen und viel sehen, schildert er seine Zukunftspläne. »Wir waren schon in Paris – was für eine wunderschöne Stadt!«, schwärmt er. »Das erste Mal sind wir mit einem russischen Reisebüro gefahren, das nächste Mal machen wir es auf eigene Faust.« Einer von Davids ganz großen Wünschen ist eine Reise nach Amerika, denn in New York lebt sein Bruder. Der ist bereits 1975 aus der Ukraine ausgewandert. Oft träumt David auch von einer Reise nach Israel. Er möchte die heiligen Stätten sehen. »Dieses Land hat Gott dem jüdischen Volk gegeben.« Angst vor Anschlägen hat er nicht. »Wenn etwas passiert, so ist es Schicksal«, sagt der religiöse Mann.