von Rabbiner Berel Wein
Entscheidend für stabile zwischenmenschliche Beziehungen ist ihre Fähigkeit, miteinander sprechen zu können. In unserer weit fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft gibt es viele Arten von Kommunikation, die frühere Generationen nicht kannten. Es fällt schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass »E-Mail« noch vor 20 Jahren sowohl ein unbekanntes Wort als auch eine unerprobte Technologie war.
Mobiltelefon, Computer, SMS, Faxnachrichten und so weiter sind alles ganz neue Methoden, miteinander in Verbindung zu treten. Das Paradebeispiel für wirksame Kommunikation bleibt aber weiterhin das gesprochene Wort.
Obwohl die Tora auf Stein und Pergament niedergeschrieben wurde, damit das jüdische Volk sie lese und studiere, schildert die Tora selbst, dass Gott Moses fast immer aufträgt: »dabeir el bnei yisrael« – sprich mit dem jüdischen Volk. Die Vorstellung von einem mündlichen Gesetz, die maßgeblich ist für das jüdische religiöse Denken, basiert auf mündlicher Kommunikation, auf dem Geben und Nehmen von Menschen, die miteinander sprechen. Was das Sprechen zur wichtigsten Kommunikationsweise macht, ist sein sehr persönliches Wesen.
Tonfall und stimmliche Nuancen, die sich nur beim Sprechen mitteilen, können im Schreiben nicht nachgeahmt werden. Gut zu schreiben ist ebenso eine Fähigkeit wie gut zu reden, doch die beiden Fähigkeiten sind nicht unbedingt gegeneinander austauschbar. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Rabbiner Israels immer der Meinung waren, die Tora, insbesondere das mündliche Gesetz, müsse in einem Umfeld von gesprochener Rede und zwischenmenschlicher Kommunikation gelehrt werden. Wir sind das Volk des Buches, aber mehr noch sind wir das Volk des Ohres, der Zunge und des Mundes, heißt es da.
In der jüdischen Überlieferung wird das Lernen der Tora von einer Melodie begleitet. Jeder, der das Glück hatte, Zeit – auch nur kurze Zeit – im Studiensaal einer Jeschiwa zu verbringen, wird sich sein Leben lang an die Melodien erinnern, die während des Talmudstudiums gesungen werden. Die Melodie selbst ist eine Kommunikationsmethode im Torastudium.
Das öffentliche Lesen der Tora am Schabbat erfolgt immer getreu den klangvollen Noten, die ihre heiligen Worte begleiten. Im Idealfall ist es zu wenig, die Parschat für sich allein zu lesen; es ist das öffentliche Lesen der Tora, nicht das gelesene Wort allein, sondern das gesprochene Wort, das uns leitet und belehrt.
Die Tora wurde uns durch eine menschliche Stimme, die Stimme Mose, gewährt. Das jüdische Volk selbst flehte Moses an, es zu belehren, denn es konnte Gott nicht »hören«. Seither wird die Tora stets durch die menschliche Stimme und durch persönliche, ja individualistische Methoden der Kommunikation von Generation zu Generation weitervermittelt.
Der Midrasch lehrt uns, dass Gott, als er aus dem brennenden Dornbusch am Berg Sinai zum ersten Mal mit Moses sprach, die menschliche Stimme von Amram, dem Vater Moses, annahm. So ist Gott sozusagen das beste Beispiel dafür, dass eine erfolgreiche Kommunikation mit Menschen durch die Kommunikation der menschlichen Stimme erzielt wird.
Diese Vorstellung ist die Grundlage für die Tora-Erziehung und das Reifen an der Tora. Daher sind Lehrer, Vorträge, Schiurim, sogar Audiokassetten und CDs (glauben Sie mir, ich verfolge hier keine persönlichen Absichten), die notwendigen Komponenten einer erfolgreichen Tora-Kommunikation. Ich habe bereits öfter die Geschichte von meinem geliebten verstorbenen Schwiegervater gesegneten Angedenkens, Rabbi Leizer Levin, erzählt. Als er von dem großen Chafetz Chayim Abschied nahm, sagte dieser geheiligte Gelehrte zu ihm: »Geh und sprich mit dem jüdischen Volk.«
Nach diesem Motto hat er sein ganzes Leben gelebt. Noch zwei Wochen vor seinem Heimgang im Alter von 96 Jahren sprach er auf einem Bankett einer Jeschiwa in Detroit. Die Rabbiner der jüdischen Tradition erweiterten die Vorstellung von der Bedeutung der direkten Kommunikation um den Gedanken, dass das aufrichtige, aus dem Herzen kommende Wort auch in die Herzen der Zuhörer eindringt. Dies ist ein Aspekt und eine Gabe, die dem gesprochenen Wort eigentümlich sind.
Geschriebene Worte, so gewaltig und zwingend sie sein mögen (einschließlich dieses großartigen Aufsatzes), haben diese Eigenschaft nicht. Geschriebene Worte erreichen das Herz erst, nachdem sie durch das Gehirn und den Intellekt eines Menschen gefiltert wurden.
Gesprochene Worte können im Gegensatz dazu sofort und direkt in das Herz des Zuhörers eindringen. Im Zweiten Weltkrieg trugen die öffentlich gesprochenen Worte Winston Churchills mehr zum Sieg über Nazideutschland bei als sein Geschick in Regierungs- und Verwaltungsfragen.
Der Herr fordert von uns, Herz und Verstand für edle und heilige Zwecke und für die Bewahrung der Tora und Israels zu mobilisieren. Doch ebenso gebietet der Herr, dass wir unsere Zungen und Münder mobilisieren, um diese Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund wird schlechte Rede im jüdischen Gesetz und in der jüdischen Tradition so geschmäht und gute Rede so gelobt und gefeiert.