von Rabbiner Joel Berger
An diesem Schabbat beginnt unser Toraabschnitt mit der Beschreibung der achttägigen Einweihungszeremonien für den »Mischkan«, das Wüstenheiligtum unserer Vorfahren. Zuerst brachten Moses und Aaron die Opfer für das Volk dar. Es verbeugte sich dankend, weil es sich sicher wähnte, daß Gott mit der »Annahme« der Opfer Vergebung für seinen Abfall in den Götzendienst übt. Die Anfertigung des Goldenen Kalbs während Moses’ Abwesenheit sollte endgültig gesühnt werden. Die Einweihungszeremonien im Heiligtum wurden von einem tragischen Vorfall überschattet.
Die Söhne Aarons, Nadab und Avihu, hatten am Altar eigenmächtig gehandelt, worauf ein seltsames Feuer entflammte, so heftig und stark, daß sie auf der Stelle davon verzehrt wurden. Auf die Frage, warum Gott auf das »ungebetene Opfer« so erzürnt reagierte, taten bereits etliche Rabbiner ihre Meinungen kund. Einige meinten, daß die beiden ihren heiligen Dienst vielleicht im alkoholisierten Zustand antraten und sie deshalb sterben mußten. Den Grund zu dieser Vermutung liefert die Tora selber, die kurz vor der Schilderung des Todes der Priesterjünger gerade den Alkoholgenuß für Kohanim im Dienst untersagt. Andere meinten, daß die beiden, da sie noch unverheiratet, ohne Familie lebten, unreif für den heiligen Dienst waren – und noch dazu voreilig gehandelt hatten.
Sie wollten sich nur unter dem Vorwand des Opferns brüsten. Ihrem Vater Aaron, dem Kohen Gadol (Hohepriester) zu assistieren, genügte ihnen nicht. Sie fragten sich vielleicht bereits, wann sie selber an der Führungsspitze, wann sie an der Reihe sein würden, endlich die »erste Geige« zu spielen? Soweit einige der Erklärungsversuche der Kommentatoren. Unlängst las ich die Meinung eines amerikanischen Rabbiners zu diesem Thema, der zu seiner Erläuterung den Seelenforscher Sigmund Freud zur Hilfe rief. Unter den jüngeren Leuten verursache eine solche Lage häufig Probleme. Freud nannte es »thanatos«, nach dem griechischen Wort für Tod. »Thanatos« steht in der Freudschen Psychologie für den unbewußten Wunsch nach dem Tod einer Autoritätsperson. Ein jüngerer Mensch glaubt irrigerweise, er könne nicht selbst zum Zuge kommen, solange noch eine ältere Person vor ihm das Amt ausübt. Solange diese Person ihm vorgesetzt ist, fühle sich der Jüngere noch als Kind und handele auch danach.
Dieser Komplex sei auch bei Kindern von Prominenten häufiger vorhanden. Der Rabbiner aus Übersee schließt sein Lösungsmodell mit folgender Feststellung: »Dieses Gefühl hatten offensichtlich auch Aarons Söhne. Sie wünschten sich, im Rampenlicht des Dienstes zu stehen, doch der Herr wollte ihnen nicht gestatten, sich unter dem Deckmantel der Gottesverehrung in den Vordergrund zu stellen, daher die Vehemenz Seiner Bestrafung. Auf jeden Fall fand ich es erwähnenswert, eine biblische Episode, die so viele Rätsel aufgab, mit Hilfe der Gedankenwelt der Psychologie von Freud lösen zu wollen. Man könnte im tragischen Ende von Nadaw und Avihu einfach den Grund erkennen, daß diese in ihrem Übermut, die ihnen gesetzten Grenzen überschritten hätten. Es wurde von ihnen keine außerordentliche Tat erwartet, sondern lediglich die Beachtung des göttlichen Gebotes.
Und dennoch scheiterten sie. Ähnliche Motive und Beweggründe entdeckt man im weiteren Inhalt unserer Parascha aus dem dritten Mosebuch. Es werden unsere Speisegesetze – die für den Verzehr reinen und unreinen Tiere behandelt. Einer der Weisen äußerte sich in der talmudischen Zeit zu diesem Thema wie folgt: »Man sage nicht, ich verspüre keine Lust das mir durch das Gotteswort verbotene Unreine zu essen, sondern ich möchte es wohl. Doch was kann ich tun, wenn mein himmlischer Vater es mir verboten hat?« Demnach könne man nur sagen, daß die Tora von uns Selbstbeschränkung und Selbsterziehung erwartet.
Es ist bezeichnend, daß die Tora zum Abschluß des Kapitels über die erlaubten und unerlaubten Speisen ihre Betrachtung mit den Worten abschließt: »... darum heiligt euch. Und ihr sollt heilig werden, denn heilig bin Ich (Gott), und machet eure Seelen nicht unrein ...« (3. Buch Moses 1, 44).
Diese Einstellung der Tora macht auch deutlich, wie unterschiedlich wir und die anderen, die späteren Religionen den Begriff »heilig« oder »Heiligkeit« interpretieren. Wie allgemein bekannt, ist der Eßtrieb neben dem Geschlechtstrieb der stärkste, intensivste menschliche Instinkt. Jedoch wir, die im Ebenbild Gottes erschaffen sind, sind auch stark genug, uns von diesen Trieben nicht beherrschen zu lassen, sondern wir streben danach, sie zu beherrschen.
Das Judesein verlangt von keinem von uns, den inneren Drang auszumerzen. Es sieht nicht den Eremiten oder Asketen als sein Ideal an. Die Tora und die nachfolgende Lehre der Rabbinen hat die Triebe mit Grenzen umgeben, die uns vernünftig erscheinen. Die Grenzen machen uns Juden zu Herrschern über uns selbst, über unsere Begierden.
Wenn die Tora gerade diese Gebote mit der Aura der Heiligkeit verbindet, dann will sie uns lehren: Beherrsche deine Triebe, denn damit bewährst du dich als Ebenbild Gottes. Mit dem Willen dazu beginnt jede Selbsterziehung.
Schemini: 3. Buch Moses 9,1 – 11,47