von Miron Tenenberg
Seit 1948 existiert ein jüdischer Staat, der neben den klassischen Voraussetzungen – Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt – auch die anderen Attribute einer Nation besitzt: eigene Armee, eigene Volkswirtschaft, eigene Schulen und Universitäten, eigene Fußballstadien – und eine Filmindustrie.
Angefangen hat diese vor 60 Jahren mit Propagandastreifen. Die israelische Identität ist zu diesem Zeitpunkt noch stark bestimmt von den Anstrengungen des Unabhängigkeitskrieges und der Erinnerung an die Schoa. Der Aufbau des neuen Staats fordert alle Energien. Raum und Geld für eine gezielt künstlerisch-cineastische Auseinandersetzung bleiben da nicht. Handfestes ist gefordert. Fahrende Filmvorführer kommen aus den Städten aufs flache Land und spulen in den Speisesälen von Kibbuzim Kriegsfilme ab, wie Giv’a 24 Eina Ona (»Hügel 24 antwortet nicht«) von Thorold Dickinson, oder Holocauststreifen wie den von der Hadassa produzierten Film Do You Hear Me?.
Die Produktionen sollen das Selbstbewusstsein der Israelis fördern, gleichzeitig werben sie im Ausland, insbesondere in der Galut, für den neuen Staat. Manchmal werden auch amerikanische Western oder Tarzan-Filme gezeigt: willkommene Abwechslungen im kargen Pionierleben.
Der »zionistische Realismus« endet 1960 mit Baruch Dienars Klassiker Hem Hayu Asarah (»Sie waren zehn«): Zehn junge russische Zionisten kommen am Ende des 19. Jahrhunderts nach Palästina und gründen eine landwirtschaftliche Kooperative. Neben dem kargen Land und den veränderten Wetterbedingungen machen ihnen vor allem Araber und die türkischen Besatzer das Leben schwer. Letztendlich lohnt sich aber ihr progressiver Weg ins Ungewisse.
Dorthin steuert auch der israelische Film, als in den Sechzigern die staatliche Förderung beginnt. Kosten für Produktionen können jetzt steuerlich abgesetzt werden. Die Filme werfen zwar noch keinen Gewinn ab, tragen sich jedoch finanziell. Gleichzeitig kommt es zu einer Spaltung.
Auf der einen Seite entsteht ein »kommerzielles Unterhaltungskino, das unter dem Begriff ›Borekas‹ bekannt geworden ist. Schnell, billig, viele«, schreibt der Filmwissenschaftler Ralf Dittrich. Borekas sind gefüllte Blätterteigtaschen – Fast Food. Auch Ephraim Kishons Satiren wie Sallah Shabati (»Tausche Tochter gegen Wohnung«) werden von manchen Kritikern zu diesem Genre gerechnet. Die Borekas gipfeln in den erfolgreichen Pubertätsko-mödien der Eskimo Limon-(»Eis am Stiel«-)Serie, die in den späten 70er-Jahren zum Kassenschlager auch außerhalb Israels werden.
Quasi das Gegenmodell zum billigen »Borekas«-Entertainment verkörpert Uri Zohar mit seinen als »Neue Sensibilität« und »Junges israelisches Kino« klassifizierten Autorenfilmen. Zohar, einer der bekanntesten Radio- und Fernsehmoderatoren Israels in den Sechzigern, bringt als Schauspieler und Produzent hervorragende Sozialsatiren heraus, die, wie Hor Ba Levana (»Ein Loch im Mond«) von 1965, radikal mit der herkömmlichen israelischen, ja der gesamten nahöstlichen Filmsprache brechen.
Doch während das Land politisch stürmische Zeiten durchlebt, vom Sechstage- bis zum Jom-Kippur-Krieg, stagniert das israelische Kino, kommt aus Zohars Schatten nicht heraus; eine misslungene Filmförderungspolitik verschlimmert die Lage zusätzlich bis in die 80er-Jahre. Zwar schlagen sich die zunehmenden Spannungen mit den Palästinensern in der »Palestinian Wave« nieder. Regisseure wie Uri Barabash mit Meahorei Ha-Soragim und Daniel Wachsman mit Hamsin beschreiben den Umgang mit der ersten Intifada. Der große Erfolg bleibt aber aus. Verständlich, will doch kaum jemand in Krisenzeiten auch noch im Kino mit Terrorängsten konfrontiert werden. Stattdessen florieren leichte Fernsehserien und Komödien.
1992 kommt der Wendepunkt in der israelischen Kinoszene. Wie in der Gesellschaft insgesamt, tritt an die Stelle des Kollektivs das Individuum. Der Fokus der Filmemacher geht weg von den äußeren, hin zu den inneren Konflikten. Assaf Dayan, der Sohn Moshe Dayans, dreht Ha-Chayim Al-Pi Agfa / Life according to Agfa. In surrealistischen Bildern zeigt er eine Nacht in einer Bar in Tel Aviv, die von den eigenen israelischen Soldaten verwüstet wird. Dayans Film wird ein Erfolg bei der internationalen Kritik. Auch andere neue Produktionen kommen auf Festivals weltweit zu Ehren, etwa Eytan Fox’ Yossi & Jagger über die tragische Liebe zweier Soldaten. Mit den internationalen Erfolgen ge- winnt der israelische Film auch langsam wieder an nationaler Bedeutung.
Aber gibt es »den« israelischen Film überhaupt noch? Das Land hat sich gewandelt. Es ist in der globalisierten Welt angekommen. Der Nahostkonflikt bestimmt zwar noch immer die Tagesordnung, aber daneben stellen sich neue Fragen der Identität als Nation, von All-
tagsproblemen der Einzelnen ganz abgesehen. Das gilt für das Land ebenso wie für das Kino.
Es ist kein Zufall, dass die preisgekrönten israelischen Produktionen der letzten Zeit inhaltlich und formal auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind: Joseph Cedars Oscar-nominiertes Militärdrama Beaufort, Etkar Kerets und Shira Geffens in Cannes mit der Goldenen Palme prämierter Großstadt-Episodenfilm Jellyfish und Eran Kolirins ebenfalls in Cannes ausgezeichnete Komödie Die Band von nebenan haben nur den Schauplatz und die Nationalität ihrer Regisseure gemein. Diese Vielfalt spricht dafür, dass der israelische Film, wie Israel selbst auch, erwachsen geworden ist. Mit 60 Jahren ist das auch an der Zeit.