von Sue Fishkoff
Mit zwei prallen Einkaufstüten im Arm drängt Chaim durch die Tür des Diners auf der Upper West Side in Manhattan. »Ich habe ein paar Kleider erstanden, Karohemden, zwei für fünf Dollar, und die Lederjacke für nur zwanzig Dollar«, sagt der 19jährige in dem knappen, jiddisch gefärbten Englisch, das für die chassidische Welt, aus der er kommt, typisch ist. »Ich wußte nicht, was ich kaufen sollte, mein Zimmergenosse kam mit. Er hat mir gezeigt, was gut ist«, sagt er und streicht mit den Fingern über einen Pullover.
Chaim ist – besser: war – ein sogenannter Skver-Chassid, geboren und aufgewachsen in der ultraorthodoxen Enklave am New Square in New York. Bis vor kurzem bestand seine Welt aus Tora, Familie und verschworener Gemeinschaft. Jetzt macht er seine ersten Schritte in die säkulare Welt. Im September rasierte er sich den Bart ab, verließ das Haus seiner Eltern und setzte sich in den Bus nach Brooklyn, wo er jetzt aufs College geht und sich mit jemandem eine Wohnung teilt. Sein neues Leben konnte er mit Hilfe von Footsteps beginnen. Seit zwei Jahren besteht diese gemeinnützige Organisation in Manhattan, die all jenen hilft, die die Grenze zwischen der Haredij-Welt und der säkularen Gesellschaft überqueren. Eine ähnliche Organisation namens »Hillel« existiert seit den 90er Jahren in Israel.
Keiner weiß, wieviele amerikanische Juden den Schoß der ultraorthodoxen Gemeinden verlassen haben; man weiß aber, daß die meisten aus New York kommen. Bis zur Gründung von Footsteps gab es keine Organisation, die ihnen half, mit dem Leben draußen fertig zu werden. Obwohl die jüdischen Organisationen Amerikas chassidische Flüchtlinge normalerweise nicht als »Juden in Not« einstufen, können Außenstehende sich kaum vorstellen, wie furchterregend und kompliziert die Alltagswelt für jemanden sein kann, der nichts anderes als den gründlich überwachten Kokon der Satmar-, Skver- oder Bobov-Gemeinden kennt. Für einen jungen Menschen ist der Ausbruch oft verbunden mit Verwirrung und Einsamkeit – und zuweilen mit Drogenmißbrauch. »Menschen, die sich für diesem Schritt entschieden haben, haben keinen Ort, wo sie hingehen könnten«, sagt Hella Winston, Autorin von Nicht auserwählt: Das geheime Leben chassidischer Rebellen.
Aus Achtung vor seiner Familie benutzt Chaim nicht seinen richtigen Namen. Seine Verwandlung vom Ultraorthodoxen in einen jungen säkularen jüdischen New Yorker geschah nicht von heute auf morgen. Vor eineinhalb Jahren hatte er gehört, »daß es so etwas wie eine öffentliche Bibliothek gibt«, mit Computern und Internetzugang. »Ich wußte nicht, wie man die Maus betätigt. Ich hab einfach den Bildschirm angetippt«, sagt er und lächelt verlegen. Er begann über die Welt außerhalb des New Square zu lesen und zu begreifen, daß »sie nicht nur aus Drogendealern und Verrücktheit besteht, wie sie bei uns in der Gemeinde behaupten«. Obwohl er bis diesen Herbst noch zu Hause wohnte, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, nach der Arbeit heimlich nach Manhattan zu fahren, durch die Straßen zu laufen und Leute anzugucken. Unter seiner Jarmulke ließ er sein Haar länger wachsen, und er kaufte sich für seine Ausflüge in die Stadt schwarze Jeans, Turnschuhe und eine Baseballmütze. »Mein Denken hatte sich schon lange davor geändert«, sagt er. »Etwas drängte mich weg. Ich weiß nicht, was.«
Er plante seinen Auszug sorgfältig. Der erste Schritt bestand darin, sein GED – eine Prüfung, die dem Abschlußzeugnis der High School entspricht – zu bestehen, um sich für ein Darlehen zu qualifizieren und das College besuchen zu können. Chassidischen Jungen wird nur wenig weltliches Wissen vermittelt, und Chaim hatte keine Ahnung, wie er sich auf die Prüfung vorbereiten sollte. Ende Februar traf er sich mit der Gründerin und Leiterin von Footsteps, der 24jährigen Malkie Schwartz, die aus der Gemeinde von Chabad Lubawitsch kommt. Sie machte ihn mit anderen ehemaligen Chassidim bekannt. Im Sommer bestand Chaim GED-die Prüfung. Noch nie hat er sich mit einem Mädchen verabredet. »Gesellschaftlich bin ich sehr unbeholfen«, gesteht er.
Der Übergang kann schwierig sein. Hella Winston erfuhr vor nicht langer Zeit von einem jungen Mann, der sechs Monate auf New Yorker Parkbänken und in U-Bahnhöfen übernachtete, nachdem er seine chassidische Gemeinde verlassen hatte. »Er konnte nirgendwo hingehen«, sagt Winston. »Amerika ist eine sehr individualistische Gesellschaft, und für Menschen, die eine Gemeinschaft verlassen, ist es wichtig, daß es eine andere gibt, die sie aufnimmt. Sonst besteht die Gefahr, daß sie vor die Hunde gehen.«
Samuel Heilman, Professor der Soziologie und Judaistik an der City University of New York glaubt: »Das größte Problem ist, daß sie ihre Familie vermissen. Die Verbundenheit mit der Familie und der Gemeinde ist für die meisten der allerwichtigste Teil ihres Lebens in der Haredij-Welt – und das, worauf Außenstehende häufig am neidischsten sind.« Wer fortgeht, zerschneidet diese Verbindungen unwiderruflich. Und wenn er weiterhin mit Familienmitgliedern in Kontakt steht, muß dies oft geheim gehalten werden.
Eine Auffangstelle wie Footsteps existierte nicht, als Schwartz vor fünf Jahren das Lubawitsch-Hauptquartier in Crown Heights verließ. Sie war neunzehn und wußte, man erwartete von ihr eine baldige Heirat. Das ist oft der Punkt, an dem junge Chassidim sich für den Bruch entscheiden, bevor der Entschluß die künftige eigene Familie in Mitleidenschaft zieht. »Ich hatte das Gefühl, daß ich diese Entscheidung für mich und die Kinder, die folgen würden, nicht treffen konnte«, erzählt Schwartz. »Ich wollte eine Ausbildung.«
Sie zog aus, schrieb sich mit einem Stipendium am Hunter College ein und machte dort ihren Bachelor. Es allein zu schaffen war nicht leicht. Im Dezember 2003 organisierte sie ein Treffen zur Gründung einer Selbsthilfegruppe für ehemalige Chassidim. 20 Menschen kamen, Footsteps war geboren. Schwartz macht alles von ihrer Wohnung aus. GED-Kurse, Schreibtherapiegruppen, Diskussionsrunden zu Gesundheit, Sex und Beziehungen werden ad hoc in der Stadt abgehalten. Mehr als 200 ehemalige Chassidim sind durch Footsteps gegangen. Viele leben nicht länger religiös, doch das bedeutet nicht, daß sie keine jüdische Identität mehr haben.
Zelda Deutsch, 28, verließ mit ihrem Mann und ihrem Sohn Anfang 2003 ihre Satmar-Gemeinde. Der Bruch war, wie sie sagt, »ein sehr komplizierter und einsamer Prozeß«. Die Deutschs besuchen die Synagoge nicht mehr, doch sie sprechen zu Hause jiddisch und begehen sämtliche Feiertage. Im November begannen sie, Schabbatessen für Mit-Footsteppers auszurichten. »Wir servieren Kugel, gefülltes Huhn, traditionelles Essen eben, und wir singen die Zemiros« – die Schabbatlieder, mit denen sie aufgewachsen sind. »Bei einigen ruft das Singen böse Erinnerungen hervor«, räumt Deutsch ein. »Aber das jü- dische Leben füllte einen so wichtigen Teil unseres Alltags aus, daß nun eine gigantische Lücke zurückgeblieben ist.«