von Elke Wittich
Die Situation könnte paradoxer nicht sein: Gesundheitsexperten warnen schon seit geraumer Zeit vor einem drohenden eklatanten Medizinermangel 30.000 Hausarztpraxen könnten im Jahr 2012 leerstehen, und vor allem in ländlichen Gegenden ist es bereits jetzt kaum möglich, Nachfolger für in Rente gehende Ärzte zu finden. Gleichzeitig sind unter den jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion viele Mediziner, die gern wieder in ihrem alten Beruf arbeiten würden, anstatt untätig zu Hause herumzusitzen.
Das ist aber gar nicht so leicht, denn vor der Zulassung in Deutschland steht die so- genannte Gleichwertigkeitsprüfung, die gemäß der Bundesärzteordnung alle ausländischen Ärzte ablegen müssen. Dabei prüft die Ärztekammer, ob die Sprach- und Fachkenntnisse dem deutschen Standard entsprechen. Für viele Zuwanderer war diese Hürde bislang fast unüberwindlich, denn nicht nur die neue Sprache, sondern auch noch Medizinerdeutsch und gleichzeitig in Praktika alles über das hiesige Gesundheitssystem und die gängigen Behandlungsweisen zu lernen, ist für einen Einzelnen kaum zu organisieren.
Das Bundesland Brandenburg, das bereits jetzt unter Hausärztemangel leidet, hat nun reagiert und bietet gemeinsam mit der Otto-Bennecke-Stiftung erstmals einen zehnmonatigen Qualifizierungs-kurs für russischsprachige zugewanderte Ärzte an, der zusätzlich mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert wird. »Wir können und dürfen angesichts des steigenden Fachkräftebedarfs nicht auf gut ausgebildete Einwanderer verzichten«, sagte die brandenburgische Gesundheitsministerin Dagmar Ziegler zu Beginn des Kurses. »Unser Modellprojekt soll eingewanderten Ärztinnen und Ärzten beim Einstieg in den Brandenburger Arbeitsmarkt helfen und einen Beitrag zur Sicherung der ärztlichen Versorgung im Land leisten.«
20 Teilnehmer, zehn jüdische Kontingentflüchlinge, zehn Spätaussiedler, besuchen den ersten Kurs. Drei Monate werden sie medizinisches Deutsch lernen, anschließend stehen vier Monate Praktikum in Kliniken und Praxen an. In der restlichen Zeit werden die Ärzte für die Prüfung fitgemacht und können dann, wenn alles klappt, endlich wieder in ihrem Beruf arbeiten. An diesem Dienstag steht zunächst ein Diktat auf dem Programm. Anhand realer Arztbriefe sollen die russischen Mediziner ein Gefühl für die nüchterne Fachsprache bekommen, in der Doktoren zum Beispiel einander über Krankheiten und Behandlungen von Patienten berichten. Die Unterrichtsmaterialien haben sich die Sprachlehrerinnen selbst zusammensuchen müssen und dabei eine Art Schnellkurs in medizinischer Fachsprache gemacht, wie Korinna Lindner, eine der Lehrerinnen, lacht. »Ärztedeutsch ist ein Technolekt, das heißt, er ist abgedichtet gegen die Laiensprache«, erklärt sie. Die komprimierte Satzstruktur mit den vielen medizinischen Termini könne auch von Muttersprachlern nicht ohne Weiteres verstanden werden.
Bei den russischen Ärzten sind allerdings eher die Grammatik und die deutschen Vokabeln das Problem, denn die aus dem Lateinischen und Griechischen stammenden Bezeichnungen für Organe, Krankheiten und Behandlungsarten sind universell. Komplizierte Sachverhalte in einfachem Deutsch ausdrücken zu können, ist ein weiteres Lernziel des Kurses, denn Patienten müssen natürlich in für sie verständlicher Sprache nach Symptomen befragt und über Behandlungen und Arz- neiverordnungen aufgeklärt werden. Große Unterschiede bestehen zudem in der ärztlichen Praxis, wie Michael Ermakov, ein Kurteilnehmer, verrät. Der Neurologe und Psychiater erklärt, dass viele Arbeiten, wie Blut abnehmen und Infusionen legen, die in Deutschland Ärzten vorbehalten seien, in Russland von Krankenschwestern erledigt würden. Statt Hausarztpraxen gibt es hauptsächlich Polikliniken, Untersuchungen mit technischen Geräten wie Röntgenapparaten, Ultraschall, Spiegelungen und EKG werden von Spezialisten erledigt. Das alles zu lernen sei allerdings kein Problem, findet Michael Er- makov, schließlich gehe es darum, endlich wieder im geliebten Beruf arbeiten zu können. Und da sei das Qualifizierungs-Projekt ein unerhörter Glücksfall.
Ermakov hatte, wie die meisten seiner Kollegen, zunächst allein versucht, als Arzt in Deutschland Fuß zu fassen. Im November 2005 aus Murmansk nach Potsdam zugewandert, versuchte der heute 51-Jährige, sich weiterzubilden und einen Arbeitsplatz zu finden. Er belegte neben dem obligatorischen Deutschkurs einen Fach- sprachkurs für medizinische Berufe und fand sogar eine, allerdings auf zwei Monate begrenzte, Praktikumsstelle in der Psychiatrie der Ruppiner Klinik. Dann aber kam er nicht weiter, ein ganzes Jahr lang, »und ein verschwendetes Jahr ist in meinem Alter sehr, sehr viel Zeit«, bedauert er rückblickend. Die jüdische Gemeinde Potsdam habe zwar sehr viel geholfen, sagt der Sohn eines Militärarztes, aber bei der Berufsanerkennung und auch bei der Stellensuche sei man eben weitgehend auf sich selbst gestellt. Und so sieht sich der Neurologe, wie viele Zuwanderer auch, in einem Teufelskreis gefangen: »Die Sprache kann ich nur dann lernen, wenn ich Kontakt zu Deutschen habe, und den Kontakt bekomme ich nur bei der Arbeit.«
Während Ermakov und seine Kollegen das Arztbrief-Diktat beenden, wird anderswo bereits der Umzug nach Brandenburg geplant, wie die Mediziner aus Gesprächen mit Freunden berichten. Denn Zuwanderer, die derzeit noch in anderen Bundesländern wohnen, schauen neidisch auf das Projekt und wollen gern beim nächsten Mal selber teilnehmen.
Noch einmal umzuziehen, diesmal innerhalb Deutschlands, da ist man sich einig, sei ein kleiner Preis dafür, endlich der erzwungenen Untätigkeit zu entfliehen und echte Perspektiven zu haben. Zur Eigeninitiative sei man gerne bereit, sagt Ermakov, »wir brauchen aber eben Hilfe bei den ersten Schritten.«