von Sabine Brandes
Heute sind sie nicht in der Luft, sondern auf dem Acker. Die schneidigen Männer von der Luftwaffe haben Plastikbeutel in der Hand und drehen, was das Zeug hält. »Nicht abziehen, sondern abdrehen«, tönt eine Stimme aus der Mitte der Obstplantage, »sonst reißt die Schale«. Es ist Tu Bischwat, das Neujahrsfest der Bäume. Dreißig Soldaten pflücken auf einem Feld in der Nähe von Raanana Clementinen für Bedürftige. Daneben quetscht sich eine Gruppe Gymnasiasten in die Zitrusbäume. Kaum sind sie in den Bus in Richtung Heimat gestiegen, kommen die nächsten, Jeschiwa-Schüler aus der Nähe von Jerusalem. Die sind lauter als die anderen, aber hochmotiviert. Hier und da verrutscht eine Kipa beim Recken und Strecken. »Was hier noch alles an den Bäumen hängt«, ruft Jehuda erstaunt, »unglaublich, daß das alles vergammeln würde, wenn wir es nicht pflücken«.
Jehudas Beschreibung trifft es genau: Was nicht geerntet wird, verrottet auf dem Feld. Und genau da kommt die Wohltätigkeitsorganisation M’Schulchan L’Schulchan (Von Tisch zu Tisch) ins Spiel. Wird ein Feld gesichtet, das nach der Saison nicht abgeerntet ist, machen sie die Eigentümer ausfindig und schlagen vor, daß Freiwillige das Obst oder Gemüse für Menschen in Not pflücken. »Das klappt dann oft auch reibungslos«, sagt Mark Eilim, einer der Koordinatoren des Projektes »Leket« – »Nachlese«. Leket begründet sich auf das Torazitat aus dem 5. Buch Moses (24,19): »Wenn du auf deinem Ackerfelde erntest und vergißt daselbst eine Garbe, so kehre nicht um, dieselbe zu holen, sondern laß sie dem Fremden, der Waise und der Witwe stehen, damit dich der Ewige, dein Gott, in allen deinen Verrichtungen segne.«
Es gebe viele Gründe, warum die Früchte an Bäumen oder Sträuchern bleiben, erklärt Eilim. Manchmal seien sie zu klein, manchmal gebe es einfach zu viele. Kürzlich erst sei der Preis für Tomaten auf umgerechnet 14 Cent das Kilo gesunken. »Da hat es sich für viele Bauern nicht gelohnt, auch nur einen Fuß auf den Acker zu setzen. Also sind wir gekommen.« In zwei Wochen hätten 2.000 Freiwillige insgesamt 20 Tonnen Tomaten gepflückt. Vergangenes Jahr zu Tu Bischwat sind so fünfzig Tonnen Orangen, Clementinen und Po- melit von den Bäumen geholt worden. Eilim erzählt mit Stolz in der Stimme von jedem einzelnen Projekt.
Der Stolz ist gerechtfertigt. Erst 2003 gegründet, ist M’Schulchan L’Schulchan mit Sitz in Raanana heute bereits zu einer Dachorganisation gereift, die 75 Wohltätigkeitsorganisationen im ganzen Land versorgt. Suppenküchen, Obdachlosenheime, Altenzentren und sonstige Einrichtungen für Bedürftige. Und dabei geht es nicht nur um Obst und Gemüse. Mehr als 10.000 fertige Essen und Milchprodukte bester Qualität werden Woche für Woche an Menschen verteilt, die sich selbst keine warmen Speisen leisten können.
Alles begann mit einem Fest. Josef Gitler, ein kanadischer Neueinwanderer, war auf eine Hochzeit eingeladen. Während er fröhlich feierte, fielen ihm die Mengen an Speisen auf, die unberührt blieben, und er fragte sich, was damit wohl geschehe. Der Anwalt stellte eine Recherche an, um herauszufinden, wie viel Essen auf Hochzeiten im Durchschnitt übrigbleibt. Er kam auf ein Viertel. 25 Prozent gute, teure Waren, die in großen Mülleimern landeten, nachdem die Gäste gegangen waren.
Das konnte so nicht bleiben, fand Gitler und machte sich daran, die Reste einzusammeln und an wohltätige Organisationen zu verteilen. Mittlerweile fahren Helfer wöchentlich 200 Hochzeiten ab. Zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens machen sie sich auf den Weg, um das Essen einzupacken. Die Feiernden geben es gern.
Doch damit nicht genug. Auch Lebensmittelhersteller und Kantinenbetreiber, die Firmen oder Armee-Einrichtungen beliefern, geben überzählige Speisen an die Organisation weiter. »Es ist wundervoll«, sagt Eilim, »die große Softwarefirma Amdocs etwa packt das Essen für uns täglich in Container. Wir müssen nur noch vorbeifahren und es einladen.« Andere Firmen, wie Intel, stellen ihre Angestellten jeden Monat einen halben Tag frei, um die Organisation bei der Nachlese zu unterstützen.
Eine Million Menschen in Israel – etwa 22 Prozent der Bevölkerung – lebt unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als 400.000 Familien leiden Hunger, jedes fünfte Kind geht zu Bett, ohne eine warme Mahlzeit gegessen zu haben. Die Freiwilligen von M’Schulchan L’Schulchan arbeiten Tag und Nacht, um gegen diesen Hunger anzukämpfen. Tagsüber konzentriert sie die Arbeit auf die Verteilung der Speisen, die während der Nacht eingesammelt und im Kühlhaus in Raanana gelagert werden. Am Morgen fahren vier gekühlte Lastwagen mit der wertvollen Fracht in nahezu alle Ecken des Landes.
Die Organisation lebt von den Freiwilligen, die für sie arbeiten. 500 Männer und Frauen teilen sich die Hochzeits-Nachtschichten, für die Feldarbeit gibt es mittlerweile eine Datenbank mit den Namen von mehr als 10.000 Menschen. »Sie alle kommen gern«, ist Eilim sicher, »denn es ist eine wahre Mizwa«. Auch Jehuda sagt, mit zwei Clementinen in der Hand: »Es ist ein schönes Gefühl, etwas für Menschen in Not zu tun.«