von Christine Schmitt
Sie hat rauhe Hände. »Schreibtischhände sehen anders aus«, sagt Rachel Kohn und lacht. Sie cremt sie sich zwar ständig ein, aber der Ton zieht eben die Feuchtigkeit aus ihrer Haut, meint sie, während sie mit ihren Fingern etwas von der braunen, weichen Masse nimmt und gedankenverloren zerdrückt. 500 Kilo Ton sind in den vergangenen Wochen von ihren Händen geformt worden – für ein »Denkmal für Kinder im Straßenverkehr«. Nach Pessach hat- te sie angefangen, eine 3 Meter 80 hohe Stele zu bauen. Im August, wenn die Erstklässler eingeschult werden, soll diese an der Kreuzung Bismarck-, Ecke Kaiser-Friedrich-Straße auf einem schmalen Grünstreifen aufgebaut werden.
Die Vorstellung, wie das Denkmal an dieser Stelle aussehen könnte, war schnell da. Es ist eine Stele, auf der ein Haus thront, das weder Tür noch Fenster hat. Darunter befindet sich eine schmale, kaum begehbare Treppe, mit der man das Haus aber nicht erreichen kann, da sie mittendrin endet. »Es läßt Raum für eigene Interpretationen«, sagt Rachel Kohn. Für sie steht das Haus fürs Leben. Und für Dersu, der im Alter von neun Jahren an dieser Straße bei einem Verkehrsunfall starb. Bei der Treppe denkt sie an seine Eltern, die ihn nun nicht mehr erreichen können. Der Charlottenburger Künstler Michael Stürenburg wird dazu noch eine Keramikplatte anfertigen, die ein von Dersu gemaltes Bild zeigt.
Vor zwei Jahren war der neunjährige Dersu mit seinem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. Vor ihm fuhr seine Mutter. Die Ampel zeigte grün, als die beiden die Straße überkreuzen wollten. Der Fahrer des rechtsabbiegenden Lkw konnte den Jungen nicht sehen, da er keinen zusätzlichen, Seitenspiegel hatte. »Der tote Winkel beträgt immerhin 38 Prozent des Sichtfeldes«, weiß Rachel Kohn. Sie fordert, daß ein Gesetz erlassen werden müsse, nach dem alle Lkw mit dem sogenannten Doblispiegel ausgestattet werden müssen.
»Einzelne sind nie so laut wie mehrere zusammen«, sagt die Bildhauerin. Deshalb gibt es nun eine Initiative im Kiez am Klausenerplatz in Charlottenburg, die sich zum Ziel gesetzt hat, an das fehlende Gesetz zu erinnern und an der Unfallstelle ein Mahnmal für die Opfer im Kindesalter zu errichten. »Die Initiative soll ein Druckmittel sein, das sich immer wieder zu Wort meldet, damit ein Gesetzentwurf für Doblispiegel für alle Lkw nicht in der Schublade verschwindet.«
Rachel Kohn kannte den Neunjährigen nur flüchtig, aber sein Schicksal und das seiner Eltern sei ihr und anderen Charlottenburger Künstlern nahe gegangen – so, daß sie anbot, das Denkmal zu bauen.
Seitdem hat sie noch weniger freie Momente als zuvor. Wenn ihre drei Töchter morgens um 7.15 Uhr im Schulbus zur Heinz-Galinski-Schule abfahren, eilt sie in ihr Atelier an der Danckelmannstraße. »Dort mixe ich Wasser, Tonpulver und Schamotte«, sagt sie. Dann drückt sie den Ton durch eine Maschine, so daß die Masse in Wurstform wieder herauskommt. Schnell packt sie den Ton in Plastik ein und lädt ihn ins Auto, um in die Bildhauerwerkstätten an der Osloer Straße zu fahren. Denn hier hat sie vorübergehend ein Atelier gemietet, um an dem hohen Denkmal arbeiten zu können und es an Ort und Stelle zu brennen. »Jetzt bin ich fast fertig mit dem Gestalten. Nun müssen Haus, Treppe und Stele noch zwei Wochen trocknen, und dann werden sie bei 1200 Grad gebrannt«, sagt die Bildhauerin. Fest wie Stein muß der Ton werden, um bei Sonne und Schnee draußen auf der Straßenkreuzung zu überdauern.
»Viel freie Zeit bleibt nicht gerade«, sagt sie. Erst abends findet die 43jährige etwas Ruhe. Aber das störe sie im Moment kaum. »Mir ist es wichtig, mich zu engagieren und mich für gute Sachen einzusetzen«, sagt sie. Beispielsweise unterstützt sie bereits seit Jahren ein Home-care-Projekt der jüdischen Gemeinde in Sarajevo mit der Hilfsorganisation La Benovolencia Deutschland. Etwa 25.000 Euro kommen als Spenden bundesweit jährlich zusammen.
Als sie fünf Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, daß sie und ihr Bruder nicht in dem damaligen System in Tschechien aufwachsen sollten. Kurz vor dem Prager Frühling flohen sie mit zwei Koffern. »Offiziell wollten wir in den Urlaub fahren«, sagt Rachel Kohn. In einem Auffanglager bei Frankfurt kam die Familie unter – und mußte erst einmal Deutsch lernen. Später ging sie nach München, wo ihr Vater als Journalist für Radio Freies Europa arbeitete. Nach dem Abitur stand für sie fest: »Ich will Bildhauerin werden.« Sie studierte an der Akademie für bildende Künste in München. Noch heute ist sie überzeugt, daß kein anderer Beruf als Bild-
hauerei für sie in Frage kommt, auch wenn es mitunter mühselig ist, die Arbeiten von Ausstellung zu Ausstellung zu transportieren. In ihrem Atelier zeigt sie alle Facetten ihres Könnens in Skulpturen, Judaica und Gebrauchskeramik. Von der Stiftung »zurückgeben« hat sie dieses Jahr ein Stipendium bekommen, um an neuen Formen für Pessach-Teller arbeiten zu können.
Mitte der 90er Jahre wollten sie und ihr Mann sich verändern, und Berlin erschien ihnen sowohl wegen des kulturellen Angebotes als auch vom jüdischen Leben her interessant. So zogen sie von München in die Hauptstadt. »Wir gehörten zu den Mitbegründern der Synagoge Oranienburger Straße, wo wir uns jahrelang für den lernenden Minjan engagierten.«
In einem Chor singt sie mit, sie geht gerne tanzen, ins Theater oder Kino und vertieft sich in Bücher – doch derzeit steckt sie ihre ganze Kraft ins »Denkmal für Kinder im Straßenverkehr«. »Wir brauchen viele kleine Spenden, damit möglichst viele Namen hinter unseren Forderungen stehen«, sagt die 43jährige. Die Kosten des Projekts belaufen sich auf etwa 10.000 Euro, fast die Hälfte ist bereits aufs Konto eingegangen.