von Hannah Miska
Elsternwick ist ein quirliger Stadtteil im Süden Melbournes, etwa 25 Minuten vom Zentrum entfernt und ganz in der Nähe vom beliebten Stadtstrand. In der belebten Einkaufsstraße findet man alles, was das Herz begehrt: teure Boutiquen, alternative Klamottenläden, ausgefallenen Schmuck, Stände mit frischem Obst und Gemüse, duftende Bäckereien und Cafés, deutsches Brot und koschere Falafel.
Was man hier nicht erwartet, ist ein Holocaust-Museum. Es ist, versteckt in einer kleinen Seitenstraße, ein intimes kleines Museum mit einer beeindruckenden Ausstellung von Fotos, Dokumenten und anderen Exponaten über das religiöse, kulturelle und berufliche Leben der Juden im Vorkriegseuropa, über den Aufstieg der Nazis, über Demütigung, Erniedrigung und Terror, über mobile Einsatzgruppen und Erschießungen in Polen, über Ghettos und Deportationen, über Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch über Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um jüdische Freunde, Nachbarn, ja Unbekannte zu retten.
Das Jewish Holocaust Museum and Research Centre, so der offizielle Name, wird in diesem Monat 25 Jahre alt. Um zu verstehen, wieso es dieses Museum in Melbourne gibt, muss man sich etwas näher mit der Demografie der jüdischen Gemeinde befassen. Zwischen 1933 und 1963 emigrierten 35.000 bis 40.000 europäische Juden nach Australien – um den Nazi-Schergen zu entkommen oder später als Überlebende des Holocaust. Die Zahl der jüdischen Neuankömmlinge war damit weitaus größer als die Zahl der Juden, die vor dem Krieg in Australien lebten. Im Jahr 1933 sollen es nach einer Volkszählung etwa 23.500 gewesen sein.
Bereits in den 60er-Jahren hatte sich die jüdische Gemeinde Australiens nahezu verdreifacht. Viele Juden gingen nach Sydney, noch mehr nach Melbourne. Bald hatte die Stadt den Ruf, in der jüdischen Diaspora einer der Orte mit dem höchsten Prozentsatz an Holocaust-Überlebenden zu sein.
»Eine große Anzahl der zweiten und dritten Generation der Melbourner Juden sind Kinder und Enkelkinder von Überlebenden«, sagt Andrew Markus, Professor für Jüdische Zivilisation an der Monash University Melbourne. Praktisch jeder in seinem Freundeskreis befinde sich »in dieser Kategorie«, und die Erinnerung an den Holocaust sei 64 Jahre nach dem Ende des Krieges noch sehr präsent, so Markus.
Der Gedanke also, eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Juden zu errichten, war schnell geboren – die Umsetzung freilich brauchte Zeit und Geld. Fast ohne staatliche Zuschüsse, aus eigener Kraft allein durch Spenden von Überlebenden, deren Familien oder von großzügigen Gönnern wurde 1984 schließlich von jüdischen Einwanderern und unter der Schirmherrschaft der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem das Museum eröffnet.
Die Frauen und Männer der ersten Stunde, die Kuratorin, die Bildungsverantwortliche, die Mitarbeiter im Archiv und in der Bibliothek, arbeiteten alle ehrenamtlich. Es gab einen Ausstellungsraum, eine Bibliothek, später eine Ton- und Videoabteilung, mehrere kleine Büros, und ein Auditorium, denn von Anfang an war da die Vision, das Museum zu einer Bildungsstätte insbesondere für junge Menschen zu machen. Viele der Überlebenden entschlossen sich, als Museumsführer zu arbeiten, und einige von ihnen, nun weit über 80 Jahre alt, berichten auch heute noch vor Schülergruppen über ihre persönlichen Erlebnisse.
Inzwischen, 25 Jahre später, haben etwa 400.000 Schüler das Museum besucht. Das Haus erfüllt damit einen enormen Bildungsauftrag, umso mehr, da europäische Geschichte im australischen Lehrplan nur gestreift wird. Das Holocaust-Museum hat mehrere Auszeichnungen für seine Arbeit bekommen, unter anderem auch auf dem Gebiet des Multikulturismus. »Denn wir wollen hier nicht unser Leiden als Juden herausstellen«, sagt Auschwitz-Überlebende Kitia Altman, »sondern der jungen Generation anhand des Holocaust vermitteln, wie gefährlich auch heute noch Intoleranz gegenüber allen Andersdenkenden oder Andersgläubigen oder Menschen mit anderer Hautfarbe ist, und wie wichtig es ist, für humanitäre Werte einzustehen.« Eine große Botschaft in einem traditionellen Einwanderungsland, in dem ein bunter Mix von Menschen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund lebt.
Berührungspunkte gibt es mit den Aborigines. In Zusammenarbeit mit einer der sechs Melbourner Universitäten wurde kürzlich ein Seminar mit Aborigines und Holocaust-Überlebenden durchgeführt, in dem über erlebte Diskriminierung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft diskutiert wurde. Vor ein paar Jahren installierte das Museum in einer Feierstunde mit Aborigines eine Plakette zu Ehren William Coopers. Der eingeborene Menschenrechtsaktivist war Ende 1938 zum deutschen Generalkonsulat in Melbourne marschiert, um gegen die Untaten der Pogromnacht in Deutschland und Österreich zu protestieren.
Jayne Josem, seit 2001 im Amt, ist die erste Kuratorin des Museums, die zur zweiten Generation gehört. Ihr Ziel ist es, neben der ständigen Holocaust-Ausstellung auch andere Themen zu zeigen, die sich mit Rassismus und dem Völkermord der Gegenwart beschäftigen. Vor allem aber muss sie darüber nachdenken, wie das Museum in Zukunft ohne Zeitzeugen arbeiten wird.
Bis heute sind die alten Männer und Frauen, die die Besucher durch das Museum führen, unzweifelhaft diejenigen, die den Museumsbesuch einzigartig machen. Wenn Jack, Schüler einer achten Klasse, Stephanie Heller fragt, ob er mal ihre Auschwitz-Nummer sehen und anfassen dürfe, und sie bereitwillig den Ärmel ihrer Bluse hochkrempelt und ihren Arm hinhält, dann ist das, im wahrsten Sinne des Wortes, Geschichtsunterricht zum Anfassen.