von Jan Popp-Sewing
»Dreht das Bettuch um, auf dem ihr steht!«, lautet die Aufgabe. Acht Jugendliche drängeln sich kichernd auf einem rosafarbenen Stretchlaken. Kaum Platz, richtig zu stehen – und den Steinboden dürfen sie auch nicht berühren. Wo anfangen? Wo ist vorne? Die 15- bis 18jährigen müssen sich erst mal ein Bild von der Lage verschaffen. Schließlich setzt ein Schieben und Wanken ein, bis der erste, gehalten von zwei anderen, es geschafft hat, einen Zipfel des widerspenstigen Lakens zu angeln, auf links zu drehen und den Fuß glücklich darauf zu setzen. Noch einmal geht ein Schwanken durch die Gruppe, dann setzt der nächste Fuß über. Stück für Stück wird jetzt die Unterseite des Lakens nach oben gekehrt. Nach ein paar Minuten ist die Textilie waschmaschinenreif, aber die Aufgabe bewältigt.
Was hat ein erfolgreich umgedrehtes Bettlaken mit jüdischer Jugendarbeit zu tun? So einiges, sagt Jossi Avidor, Jugendreferent des Landesverbands Jüdischer Gemeinden in Nordrhein. Der 33jährige hat Jugendliche aus allen Nordrhein-Gemeinden zu einem Seminar ins Düsseldorfer Jugendzentrum eingeladen, mit dem Ziel künftige Madrichim – Jugendgruppenleiter – zu trainieren. Und Training soll hier zuallererst einmal Spaß machen.
In den acht Gemeinden im Landesverband Nordrhein – von Bonn und Aachen im Süden über Mönchengladbach, Krefeld und Wuppertal bis ins Ruhrgebiet – leben etwa 2.500 jüdische Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren. 80 bis 90 Prozent von ihnen stammen aus Zuwandererfamilien. Aber nur knapp 250 nehmen bislang regelmäßig die Jugendangebote der Gemeinden wahr.
Für Avidor eine Herausforderung. »Das ist ein riesiges Potential an Leuten, die wir erreichen wollen«, sagt er, und dafür brauche es engagierte Ehrenamtler. Honorarkräfte für die Jugendarbeit können sich nur die Gemeinden in Düsseldorf, Duisburg und Aachen leisten sowie in Köln, das einen eigenen Bezirk bildet, aber eng mit Nordrhein kooperiert. Entsprechend umfangreich und vielfältig ist dort auch das Angebot. Doch kleinere Gemeinden kommen oft nur auf einzelne stundenweise Arbeitsgemeinschaften, und das in Räumen, die sie sich meist mit anderen Organisationen teilen müssen.
Die Jugendarbeit soll spielerisch jüdische Werte, soziale Kompetenz, Wissen und falls nötig auch Sprachkenntnisse vermitteln: Die Bedeutung von Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Arbeit, Wohltätigkeit, Wissen über die Tora, Kenntnisse über Israel sind die Grundpfeiler. In jedem Spiel, das die neuen Madrichim lernen, steckt auch ein Mosaikstein jüdischer Tradition, jüdischer Identität. Mal wird das wie beim Israel-Quiz offensichtlich: »In welcher Stadt liegt dieser Hafen? Die Antwort lautet: Haifa. Beim Bettlaken-Spiel geht es darum, zu lernen, wie wichtig Zusammenhalt und Zusammenspiel in der Gruppe sind. Nur gemeinsam ist die Aufgabe zu lösen. Manchmal ist der Lerneffekt aber auch versteckt und macht sich erst viel später bemerkbar. In einige der Spiele haben Avidor und die Duisburger Jugendleiterin Dana Lehrer vermeintliche Ungerechtigkeiten eingebaut. Plötzlich gibt es für unfaires Verhalten Punkte, was anschließend Anlaß zu lehrreichen Diskussionen bietet.
Die 16 Jugendlichen, die zum Auftakt-Seminar gekommen sind, stammen fast durchweg aus Einwanderer-Familien, die intensive Verbindungen zum Judentum haben. Oft ist zumindest ein Elternteil in den Gemeinden aktiv und hat den Nachwuchs kurz nach der Ankunft in Deutschland dazu motiviert, Jugendgruppen zu besuchen. Der 18jährige Ilja kam vor drei Jahren nach Düsseldorf und ist seitdem regelmäßig im Jugendzentrum der Gemeinde anzutreffen. Sein erster Versuch, eine Videogruppe zu gründen, sei daran gescheitert, daß es keine Kameras gab, erzählt der Gymnasiast. Ilona (15) aus Duisburg würde gerne mit Kindern arbeiten, ebenso Marc (16) aus Aachen. Er freut sich, selbst in der Gruppe etwas lernen zu können. Allen gemeinsam ist, daß sie nach einer Zeit als Besucher von Jugendgruppen nun selbst aktiv werden und »etwas zurückgeben« wollen.
Ganz so einfach wird das aber nicht, weiß Avidor: »Jugendarbeit ist harte Arbeit. Oft muß man den Kindern auch nachlaufen.« Vor allem um an die 90 Prozent heranzukommen, die nicht von sich aus in die Gemeinden kommen, sei großer Einsatz nötig. »Ihr müßt richtig gut sein, Angebote machen, die die Leute anlocken. Das spricht sich rum«, sagt der Jugendreferent. »In der Tat, um Erfolg zu haben, muß man den Leuten auch auf die Nerven gehen«, gesteht er. Es lohne sich, auch einfach mal auf gut Glück bei Jugendlichen anzurufen. Und sich bloß nicht von Absagen enttäuschen lassen.
Die Gruppe trifft sich nun alle vierzehn Tage in wechselnden Gemeinden, und es können auch noch mehr Jugendliche mitmachen. Jossi Avidor will Anregungen geben, wie man interessante Gruppentreffen gestalten kann. Dazu gehört auch, Spiele zu erlernen. Doch genauso wichtig ist das Zusammenwachsen der Madrichim untereinander. Die Teilnehmer sollen sich gegenseitig beim Aufbau von Gruppen helfen. Denn die werden gerade in den kleineren Gemeinden zu Anfang nur aus sehr wenigen Interessierten bestehen. Dann müssen sich Leiter selber motivieren.
Avidor möchte die Gemeinden mit einem Netz von Jugendgruppen überziehen. Aus den Gruppen, die die Madrichim hoffentlich gründen werden, sollen später weitere Madrichim kommen, die wiederum weitere Gruppen gründen und so weiter – wie bei einem »Lauffeuer«. Daß das Jugendreferat den Namen Esch trägt, hebräisch für Feuer, ist deshalb kein Zufall.
Die Organisation der einzelnen Gruppen vor Ort ist natürlich Sache der ehrenamtlichen Mitarbeiter und Jugendleiter. Der Landesverband kann mit Wissen und manchmal mit Material helfen – zur Not auch mal wieder mit farbigen Bettlaken.
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