von Tobias Kühn
Die Plätze reichen nicht für alle. Der kleine Raum im Haus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt (Oder) ist fast so breit wie hoch, auf jeder Seite stehen zwei Schulbänke. An diesem späten Mittwochnachmittag sitzen in dem Unterrichtsraum neun Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren – sieben Jungen und zwei Mädchen. Lautstark unterhalten sie sich auf russisch. Vorn am Lehrerpult steht Sarit, eine junge Frau mit langem dunklen Haar und randloser Brille. Sarit spricht kein Russisch. Die 21jährige Israelin ist Madricha, Jugendleiterin. Eine von 16 Freiwilligen, die im Rahmen eines sozialen Jahres im vergangenen Herbst nach Deutschland gekommen sind, um in den jüdischen Gemeinden beim Aufbau der Jugendarbeit zu helfen. Das Projekt besteht seit sechs Jahren. Es wird von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) getragen und heißt »Lehawa«, hebräisch Flamme. Die israelischen Freiwilligen verteilen sich auf acht Zentren: Berlin, München, Hamburg, Köln, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Hannover. Von dort aus sind sie in den Gemeinden aktiv.
Sarit ist in Berlin stationiert. Dort gibt sie montags und donnerstags Unterricht an der Jüdischen Oberschule, sonntags fährt sie oft nach Dresden ins jüdische Jugendzentrum, und jeden Mittwoch kommt sie nach Frankfurt, um eine Pe’ilut zu leiten, eine Unterrichtseinheit. An diesem Mittwoch möchte sie mit den Jugendlichen über Jom Hasikaron sprechen, den Gedenktag für die Gefallenen der israelischen Armee. »Ich bin froh, daß heute einige gekommen sind«, sagt sie. Es hat Tage gegeben, da war sie allein.
Sarit steht an ihrem Lehrertisch und blickt auf die Jugendlichen. Worüber sie reden, kann die junge Frau nur erahnen. In Israel im Vorbereitungskurs vor ihrem freiwilligen Jahr hörte sie zwar, daß die meisten Juden in Deutschland Zuwanderer seien und Russisch sprächen. Aber die Realität habe sie dann doch verblüfft, sagt die 21jährige. Die israelischen Freiwilligen von Lehawa seien aber trotz Sprachbarrieren dennoch in der Lage, ihr Wissen weiterzugeben und die jüdische Identität der Jugendlichen in Deutschland zu stärken, sagt Zwiky Tamari, der Leiter des Projekts. Als Israelis seien sie in jüdischen Zusammenhängen aufgewachsen, und jüdische Traditionen gehören zu ihrem Alltag.
Es ist 18 Uhr. Sarit möchte mit dem Unterricht beginnen. »So Leute, wie geht’s euch?«, fragt sie energisch. »Fine, gut, beseder«, antworten die Jugendlichen auf englisch, deutsch und hebräisch. »And how are you?«, fragt Boris zurück. Jemand freut sich, schon etwas Hebräisch zu können und fragt: »Ma nischma?«
Sarit sagt, daß sie heute über Zahal, die israelische Armee, sprechen möchte. Doch die jungen Leute wirken nicht begeistert. »Wir wollen spielen«, sagt Daniil in der ersten Reihe. Der 16jährige hat keinen Stuhl mehr abbekommen und sitzt deshalb auf dem Tisch. Auf seinem Schoß hält er einen Fußball. Sarit überlegt kurz, dann sagt sie: »Okay, gebt mir fünf Minuten, dann könnt ihr spielen.« So beginnt sie mit organisatorischen Dingen, erzählt von einem jüdischen Wochenende in Berlin, an dem die Jugendlichen teilnehmen können. Von der israelischen Armee werde sie ihnen später erzählen, nach dem Fußballspielen.
Lehawa-Leiter Zwiki Tamary ist an diesem Mittwoch mit nach Frankfurt gekommen. Der 33jährige Israeli lebt seit anderthalb Jahren in Berlin. »Obwohl wir unsere Pe’ilut manchmal nicht durchziehen können, ist es wichtig, daß wir trotzdem kommen und mit den Jugendlichen zusammen sind«, sagt er. »So erleben sie beiläufig Jüdisches und Israelisches.« Zum Beispiel habe ihn ganz nebenbei einmal ein Junge gefragt, ob nach der Halacha ein Jude eine Kirche betreten dürfe. Als Tourist oder als kunstgeschichtlich Interessierter sei dies kein Problem, habe Tamary ihm geantwortet. Am Gottesdienst sollte er aber besser nicht teilnehmen. Allerdings: Selbst wenn er einmal hinginge, bleibe er doch Jude.
Auf dem Hof vor dem Gemeindehaus haben sich neben einer Hecke inzwischen zwei Mädchen und drei Jungen mit Sarit und Zwiki im Kreis aufgestellt und spielen Volleyball. Ein paar andere kicken in einer Ecke gemeinsam mit Vladimir Chazanov, dem jungen Vorbeter der Gemeinde.
Aus der Unterrichtsstunde über die israelische Armee wird an diesem Mittwochabend nichts mehr. Denn nach dem Spielen müssen die neun unbedingt nach Hause. »Ein dringendes Fußballspiel im Fernsehen.«
Mit Schweißperlen auf der Stirn und geröteten Wangen steigt Zwiki Tamary kurz vor acht in sein Auto. Gemeinsam mit Sarit fährt er zurück nach Berlin. »Daß wir heute keine Pe’ilut gemacht haben, ist nicht schlimm«, sagt Sarit. »Wichtig ist der Kontakt mit den Jugendlichen.« Zwiki Tamary erzählt, daß eine von ihnen ein Kreuz um den Hals getragen habe. Beim Verabschieden habe er sie gefragt, warum. Sie habe ihm nicht geantwortet. »Aber vielleicht denkt sie darüber nach.«