Die letzten Strahlen der Herbstsonne verführen dazu, den Kaffee noch einmal draußen zu genießen. So auch in der Emdener Straße in Berlin-Wedding, im Quartier der Immigranten und Studenten, der Familien, Kreativen, Prekären und der Künstler – denen, die im Leben eher mal improvisieren müssen. Menschen wie Gabriel Heimler.
Er öffnet die Tür zu seiner Altbauwohnung, die Haare hat er zum Zopf gebunden, der Blick ist wach. Heimler führt durch das erste Zimmer, dort betreibt seine Frau einen kleinen Verlag. Dahinter liegt sein Atelier. In der Luft hängt rauchiger Vanilleduft. Der etwa 20 Quadratmeter große Raum ist vollgestellt mit großformatigen Bildern, Farbeimern, Pinseln, Leinwänden. In einem Bücherregal thronen ge- brauchte Kunstbände, Chagall, Beuys, Warhol. An der Wand jede Menge Bilder, darauf machen bunte Figuren traurige Gesichter. Als seien sie verirrt.
Alterslos Gabriel Heimler rutscht auf einem schmalen Holzhocker, der in der Mitte des Zimmers steht, hin und her und schlägt die Beine übereinander. Seine schwarz umrandete Brille verleiht ihm etwas Intellektuelles. Trotz der dünnen Falten, die sich durch das feingliedrige Gesicht ziehen, wirkt der Mann seltsam alterslos.
»Vor Kurzem stand ich noch auf einer Leiter vor der Mauer«, beginnt er in leicht französischem Akzent zu plaudern. »Einmal stoppte ein Bus mit Amerikanern vor mir, sie applaudierten und riefen: ›Bravo, Heimler!‹ Der US-Sender NBC filmte. Ich kam mir vor wie im Zoo«, sagt der 45-Jährige. Eigentlich brauche er den Beifall nicht, diese Mauerfolklore. Lieber steht er, wie alle wahren Künstler, einsam vor seiner Leinwand. Heimler springt plötzlich auf, geht zum Schrank und nimmt eine Pfeife aus der Schublade. Dann setzt er sich wieder, zündet sie an.
Ein amerikanischer Professor der Columbia-Universität halte gerade ein Seminar über den »Mauerspringer«, Heimlers bekanntestes Bild. Es klingt ein wenig stolz. Er hat es im Frühjahr 1990 auf der Ostseite der East Side Gallery gemalt, zwischen »Trabi« und »Bruderkuss«. Sogar im internationalen Fernsehen war dieser Mann zu sehen, der wild von West nach Ost springt. »Dieses Gefühl kennt jeder Flüchtling«, sagt Heimler, obwohl er selbst nie auf der Flucht war. Aber durch das Schicksal seiner Familie ahnt er, wie das sein kann.
Als sefardische Juden mussten sie Ende des 19. Jahrhunderts wegen der Pogrome Lübeck verlassen und nach Siebenbürgen übersiedeln, später kamen sie nach Ungarn. Heimler wurde in Paris geboren, aber die Sommerferien hat er oft in Budapest verbracht, in der »Villa der Seele«, in der man das Parkett knarren hören konnte. »Mein Großvater hat häufig Heine zitiert, überall gab es Bücher und Bilder in diesem bürgerlichen Heim.« Nach und nach entdeckte Heimler unbekannte Spielzeuge und Kleider auf dem Dachboden, lauter tote Gegenstände. »Ich fing an, sie zu malen, um die Geister lebendig zu machen.«
Mit seinem Opa ist er in die Synagoge gegangen. Wenn sie herauskamen, nahmen sie die Kippa ab. Während des Schabbats wurden die Gardinen zugezogen. Keiner sollte sehen, dass sie Juden waren. Ei- nes Tages berichtete ihm seine Oma dann von der Deportation, von Zwangsarbeit, vom Appell, von Nacktheit. Solange man noch Kleider hat, hat sie gesagt, ist man noch wer. »Ich wurde nicht frei geboren«, betont Heimler ein wenig theatralisch. »Ich hatte eine Mission.« Dabei spielt er mit dem Anhänger seiner goldenen Halskette, einem Mini-Kerzenleuchter. Dann zeigt er auf die Skizzen, die an der Wand hängen. Nackte Frauen mit zum Zopf gebundenen Haaren, die sich regungslos gegenüberstehen. Gespenster. Er hat ihnen eine Form gegeben, hat sie sich aus den Träumen gemalt. Einen der versteckten Gegenstände hat er aufbewahrt. Heimler holt einen klobigen Holzschuh aus der Ecke, hält ihn in der Hand wie einen Schatz: »Damit hat meine Großmutter den Todesmarsch überlebt.« In seiner Stimme schwingt Demut.
Judith Heimler, seine Mutter, durfte wegen ihrer bürgerlichen Herkunft in Ungarn nicht studieren und wanderte mit ihrem Mann, einem ungarischen Adligen und Ingenieur, 1956 nach Frankreich aus. Am rechten Seineufer, im 9. Bezirk von Paris, ist Gabriel Heimler groß geworden. »Aber in Frankreich redete niemand über die Nazizeit, auch das Schicksal der Ostjuden war tabu.« Er spürte eine subtile Feindseligkeit allen gegenüber, die nicht Franzosen waren – gleichgültig, ob Italiener, Spanier, Portugiesen, Nordafrikaner oder Ju- den. In seiner Klasse saß Heimler immer in der letzten Reihe. »Einmal wurde ich von meinem Geschichtslehrer zusammengeschlagen, weil ich ihn als Antisemiten bezeichnet hatte.« Als alle erfuhren, dass sein Vater die Glaspyramide des Louvre mitgebaut hatte, durfte er vorne sitzen, aber er blieb fremd. Und als sein bester Freund zu den Islamisten überlief, »war ich von heute auf morgen nicht mehr Gabriel, sondern der Jude«.
selbstverteidigung Nach der Schule wartete ein Trupp Araber, um ihn und seinesgleichen zu verprügeln. Irgendwann wollte Heimler kein Opfer mehr sein, er gründete eine jüdische Selbstverteidigungsgruppe. Man kann ihn sich schwer mit einem Baseballschläger vorstellen, dafür ist seine Gestalt zu feminin. Aber sein Blick ist jetzt härter geworden. Wer verwundet wird, kann radikal werden.
Während des Studiums an der renommierten Kunstakademie École des Beaux-Arts in Paris durfte er als 20-Jähriger im »Grand Palais« auf einer Messe ausstellen. Als Beraterin fungierte Mirabelle Dors, René Magrittes Frau. »Sie war eine Grande Dame, redete wenig und bedeutete nur mit dem Finger, wo ein Bild hängen sollte«, erzählt Heimler. Ein bekannter Galerist orderte dann fünf große Bilder im Monat von ihm. Ein Triumph. Bis er eines Tages fragte, ob Heimler nicht einen französischen Namen annehmen könnte, dann ließe sich sein Werk noch besser verkaufen. »Da dachte ich das erste Mal daran, nach Deutschland zu gehen«, berichtet er und meint die DDR.
1987 erhielt Heimler seine Aufenthaltsgenehmigung. Er stand am Gare de l’ Est und wartete auf seinen Zug, als eine Frau ihn um Feuer bat. Sie plauderten über ihren Lieblingsmaler Lermontoff. »Ich wusste sofort, dass ich mit ihr zusammenleben wollte«, sagt Heimler, und es klingt wie aus einem Film von Truffaut. Sie sahen sich wieder, in West-Berlin. Der Künstler holt ein grünes Album, das auf dem Boden liegt, und zeigt vergilbte Fotos von seiner ersten Ausstellung in Berlin-Kreuzberg. Damals trug er kurze schwarze Locken und zeichnete die ersten Entwürfe des »Mauerspringers«.
»Die Grenze war in meinem Dasein immer präsent«, sagt er. Als die Zeit reif war für sein Bild, als es historisch wurde und um die Welt ging, wurde auch die Laden-galerie am Kurfürstendamm aufmerksam. Sie nahm ihn für zehn Jahre unter Vertrag. »Die wussten, man kann mich verkaufen«, sagt Heimler ziemlich abgeklärt. Dann schimpft er: »Dass die East Side Gallery vom Bezirk nun am liebsten für Spekulationsflächen geopfert werden soll, ist eine Schande«, immerhin sei sie mit 600.000 Besuchern jährlich der zweitwichtigste Ort für Touristen in ganz Berlin. Sie steht exemplarisch auch für sein Leben, für einen Riss, eine innere Grenze.
Aber Heimler möchte keine l’art pour l’art machen, das Politische und Ästhetische sollen in seiner Kunst zusammenkommen. »Ich bin beides, Künstler und Aktivist.« Nach den Ausschreitungen gegen ein Rostocker Asylbewerberheim im Oktober 1992 organisierte er gemeinsam mit dem französischen Juden Arno Klarsfeld Gegendemonstrationen und Petitionen, aber kaum jemand folgte ihnen. »Ich habe mich damals geschämt, in einem Land zu leben, das nicht reagiert«, sagt Heimler.
Anfang der 90er-Jahre gründete Heimler »Meshulash«, die erste jüdische Künstlergruppe in Deutschland nach dem Krieg. Die Mitglieder, zu denen auch Intellektuelle wie Nora Drimmer oder Ronnie Golz gehören, starteten diverse Aktionen. Beispielsweise besetzten sie die Synagoge in der Berliner Brunnenstrasse und zeigten dort eine Ausstellung. Mittlerweile fehlt das Geld. Aber Heimler wird nicht müde zu erklären, dass die jüdische Kultur nicht tot sei, »dass in Berlin ein kosmopolitisches jüdischen Leben existiert«. An Schicksale wie das seiner Großeltern will er nicht ständig erinnert werden, jedenfalls nicht von Institutionen. Ihn stört dieses offizielle Gedenken an die Schoa: »Ich möchte nicht zweimal begraben sein.«
Womöglich kann nur er so etwas sagen. Jemand, der selbst fortwährend über die Frage nach der eigenen jüdischen Identität nachdenkt, der andere motiviert, ihr Selbstverständnis immer wieder neu auszuloten, wie in der von ihm redaktionell betreuten Zeitschrift Golem, die vor zehn Jahren zum ersten Mal erschienen ist. Wenn er aber auf seinen eigenen Ausstellungen die Bücher von jüdischen Autoren gleich mitpräsentieren soll, lehnt er ab. »Ich möchte kein Alibijude sein«, ruft Heimler. Kein Stellvertreter.
Eine seiner neuesten Konzeptionen ist die multimediale Ausstellung »Art-Express« über Migrantenschicksale. Zwölf Künstler aus Berlin, Budapest, Paris und Essen zeigen ihre individuelle Sicht auf die Metropolen, in die sie emigriert sind. Die meisten von ihnen pflegen wie Heimler ihre kulturelle Tradition. Seine Kinder halten Schabbat und gehen auf eine französische Schule, seine Frau, die nicht konvertiert ist, zündet zu den Festtagen die Ker- zen an.
So ruhig er äußerlich auch wirken mag, so deutlich ist gelegentlich zu spüren, dass er innerlich mit sich kämpft. Mit seiner Mission. Sie lastet auf ihm. Heimler zeigt auf sein neues Bild an der Wand: Ein dunkelhaariger Mann mit einer eckigen Brille steht in einem Meer von blonden Frauen. Wie jemand, der da nicht hingehört. Als hätte er sich verirrt.